Schweizer Revue
30. September 2021
Das Gesundheitswesen der Schweiz droht selbst zum Pflegefall zu werden
Die Bevölkerung der Schweiz altert, die Zahl komplexer Krankheitsfälle steigt. Das ist fürs hochstehende Schweizer Gesundheitswesen eine enorme Herausforderung. Verschärft wird sie durch den Mangel an gut ausgebildetem Personal: Jene, die pflegen, sind stark gefordert – und arbeiten immer häufiger am Limit.
Die Bevölkerung zahlt viel
Die Kosten steigen, Reformpläne scheitern und Fachkräfte fehlen: Im Schweizer Gesundheitswesen läuft einiges nicht gut. Das Pflegepersonal hat schon vor Corona Alarm geschlagen. Es klagt über schlechte Arbeitsbedingungen und fehlende Wertschätzung. Nach eineinhalb Jahren Pandemie ist es körperlich und emotional definitiv erschöpft. Der Druck auf die Pflege steigt allerdings weiter, weil demografische und gesellschaftliche Entwicklungen die Situation stetig verschärfen. Gemäss Prognosen dürften bis 2030 rund 65 000 Pflegende fehlen. Personalverbände und Fachleute warnen vor einem Notstand. Die Volksinitiative «für eine starke Pflege» soll helfen, einen solchen abzuwenden. Am 28. November 2021 stimmt das Volk über diese Initiative ab.
Viele hängen den Beruf an den Nagel
In der Schweiz arbeiten rund 214 200 Personen im Pflegebereich. Die meisten sind in Spitälern (45 Prozent) und Pflegeheimen (41 Prozent) tätig. 14 Prozent sind bei Spitex-Organisationen angestellt. Und viele Pflegerinnen und Pfleger arbeiten Teilzeit. Ein 100-Prozent-Pensum sei kaum zu bewältigen, berichten sie. Das allgemeine Bild: Der Schichtbetrieb erschwert es, privaten Interessen und familiären Verpflichtungen nachzukommen; die Arbeit ist physisch und psychisch belastend; und der Spardruck im Gesundheitswesen führt dazu, dass Abteilungen minimal besetzt und zur Effizienz angehalten werden. Pflegende haben oft wenig Zeit, um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und mit Patienten über scheinbar Nebensächliches zu plaudern. Sie leiden darunter, dass sie ihren Beruf nicht so ausüben können, wie sie es angemessen fänden. Viele steigen daher vorzeitig aus. Ein Drittel jener, die sich vom Pflegeberuf abwenden, ist noch nicht einmal 35 Jahre alt.
Zugewanderte füllen Lücken
Im Pflegebereich sind in der Schweiz so viele Stellen ausgeschrieben wie noch nie. Personalverantwortliche haben Mühe, sie zu besetzen. Sie suchen deshalb die Fachkräfte häufig im Ausland. Von der Ärzteschaft des Ostschweizer Kinderspitals beispielsweise haben 42 Prozent einen Schweizer, 36 Prozent einen deutschen und 8 Prozent einen österreichischen Pass. Das diplomierte Pflegepersonal besteht hingegen zu 86 Prozent aus Mitarbeitenden aus dem Inland. Die Universitätsspitäler Zürich und Lausanne hingegen setzen im Pflegebereich deutlich stärker auf ausländische Arbeitnehmende, zu rund 60 respektive 50 Prozent. Auch Privathaushalte engagieren vermehrt Pflegerinnen aus Deutschland und Osteuropa. Diese Frauen stehen fast rund um die Uhr im Einsatz, verdienen vergleichsweise wenig und reisen nach ein paar Monaten in ihre Heimat zurück.
Der Weg, die Lücken im Personalbestand mit Fachkräften aus dem Ausland zu füllen, ist aus ethischen Gründen problematisch: Die Schweiz zählt auf Menschen, welche in anderen Staaten ausgebildet wurden – und dort fehlen. In Zukunft dürfte die Rekrutierung im Ausland schwieriger werden. Die Herkunftsländer bemühen sich nämlich verstärkt darum, ihre Fachleute zu behalten. Gleichzeitig wird in der Schweiz der Personalbedarf weiter deutlich ansteigen, unter anderem wegen der Alterung der Gesellschaft.
Viel Wissen, wenig Autonomie
Gemessen an der Anzahl der Pflegekräfte pro 1000 Einwohner steht die Schweiz im Vergleich mit anderen Ländern gut da. Daraus auf eine vergleichsweise komfortable Situation des Berufsstands zu schliessen, sei aber falsch, sagt Rebecca Spirig, Professorin am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Basel: «Entscheidend ist, wer alles mitgezählt wird und wie die Personen eingesetzt werden.» In Deutschland beispielsweise ist die Wundversorgung erst vor wenigen Jahren der Pflege übergeben worden. In der Schweiz gehört es zur Grundausbildung, Injektionen zu verabreichen und Infusionen zu legen. In den USA sind sogenannte «Nurse practitioners» für die Erstversorgung der breiten Bevölkerung zuständig. Und in Holland hat sich das Modell «Buurtzorg» (Nachbarschaftshilfe) mit Pflege-Teams etabliert, die sich weitgehend selbst organisieren: Sie beraten, entscheiden, behandeln, koordinieren und ziehen bei Bedarf weitere Fachleute hinzu.
Ärzte haben eine starke Rolle
«Die Schweiz ist keine Vorreiterin», sagt Rebecca Spirig. Ihr Pflegesystem orientiere sich stark an der ärztlichen Expertise: «Die Pflegenden haben viel Wissen, können aber wenig selbst entscheiden.» Tatsächlich braucht es selbst für niederschwellige Massnahmen wie das Tragen von Kompressionsstrümpfen eine ärztliche Verordnung. Dazu kommt eine gewisse Unübersichtlichkeit: Wer Pflege benötigt und in den eigenen vier Wänden lebt, hat meist mit mehreren Leistungserbringern zu tun. Spitex-Mitarbeitende helfen bei der täglichen Körperhygiene, wechseln Verbände und versorgen Wunden; Ärztinnen und Ärzte stellen Diagnosen, behandeln und verordnen Therapien; Fachleute der Physio- und der Ergotherapie führen diese durch. «In der ambulanten Versorgung fehlen einheitliche Strukturen und Prozesse», sagt Ursula Meidert von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Absprachen sind oft ungenügend. Das kann zu Doppelspurigkeiten, Lücken und Fehlbehandlungen führen.
Qualität unterscheidet sich stark
Das Schweizer Gesundheitswesen ist – wie viele andere Bereiche des Alltags auch – föderal organisiert. Der Bund gibt Leitlinien vor. Die Umsetzung liegt bei den Kantonen, welche wiederum gewisse Aufgaben an die Gemeinden delegieren. Diese verantworten teilweise die Langzeitpflege und die ambulante Versorgung älterer Menschen. Welche medizinischen und sozialen Dienste an einem Ort vorhanden sind und wie gut diese zusammenarbeiten, ist daher sehr unterschiedlich.
Bestrebungen, die Grundversorgung vernetzter und effizienter zu gestalten, gibt es durchaus. Gerade im ländlichen Raum sind Gemeinschaftspraxen entstanden, in denen verschiedene Berufsgruppen kooperieren. Auch Modelle mit starken Spitex-Organisationen und fliessenden Übergängen zur stationären Pflege existieren. Sie werden zum Teil von der öffentlichen Hand unterstützt. «Wir haben gute Beispiele evaluiert», betont Pflegewissenschaftlerin Rebecca Spirig. Doch es fehle am politischen Willen, diese voranzutreiben und schweizweit umzusetzen. ZHAW-Forscherin Ursula Meidert teilt diesen Eindruck: «Viele Behörden handeln erst, wenn es nicht mehr anders geht.»
Akteure verfolgen eigene Interessen
Die Komplexität des Systems erschwert es, Zusammenhänge zu erkennen und auf eine längere Sicht grundlegende Reformen anzustossen. Die nationale Politik wirkt wenig entscheidungsfreudig: Sie verliert sich häufig in Grundsatzdebatten und ist kaum zu Kompromissen fähig. Ideen für Verbesserungen scheitern vielfach bereits in den eidgenössischen Räten, wo gewichtige Akteure – darunter die Ärzteschaft, die Krankenkassen und die Pharmaindustrie – Einfluss nehmen. Aber auch das Stimmvolk beurteilt Reformpläne oft kritisch. 2012 lehnte es zum Beispiel eine Vorlage ab, welche die Koordination und die Qualität der Grundversorgung verbessern wollte.
Die Gegner von innovativen Konzepten warnen jeweils vor höheren Ausgaben und sprechen damit eine weit verbreitete Sorge an. Studien weisen allerdings darauf hin, dass einheitliche Strukturen und effiziente Abläufe kostensenkend wirken. Arbeiten die verschiedenen Berufsgruppen besser zusammen, sind die Angestellten zudem zufriedener und bleiben dem Gesundheitswesen länger erhalten. Rebecca Spirig, die selber dem Initiativkomitee angehört, erhofft sich von der Pflegeinitiative auch einen Impuls für eine verstärkte Kooperation: «Ein Ja würde nicht nur in der Pflege, sondern im Gesundheitswesen als Ganzes Reformen anstossen.»