Vitamin G
November 2021

«Die heutige Form von Armut ist oft unsichtbar»

Grossmutter, Alt-Bundesrätin, Präsidentin des Stiftungsrates der Pro Senectute Schweiz: Eveline Widmer-Schlumpf über mögliche Folgen der Corona-Krise, Reformpläne für die Altersvorsorge und ihre sechs Enkel.

Vitamin G
Zur Person

Eveline Widmer-Schlumpf präsidiert seit drei Jahren den Stiftungsrat von Pro Senectute. Von 2008 bis 2015 war sie Bundesrätin. Sie stand zuerst dem Justiz- und Polizeidepartement vor, später leitete sie das Finanzdepartement. Die BDP-Politikerin hat in jungen Jahren Rechtswissenschaften studiert und danach als Anwältin und Notarin gearbeitet. 1998 wurde sie (damals noch für die SVP) als erste Frau in die Regierung des Kantons Graubünden gewählt. Sie engagiert sich in verschiedenen Stiftungen und Vereinen. Die 64-Jährige ist verheiratet, hat drei Kinder und sechs Enkel.

Frau Widmer-Schlumpf, Ihre Mitarbeitenden haben täglich mit älteren Menschen zu tun, die mit sehr wenig Geld auskommen müssen. Was sind die Gründe für Altersarmut?

Die Gründe sind vielfältig. Zum einen sind es Menschen mit einer ganz normalen Arbeitsbiografie, die aber ein tiefes Einkommen hatten, die vielleicht auch Teilzeit gearbeitet haben und deshalb über ein tiefes oder gar kein Pensionskassenguthaben verfügen. Zum anderen sind es Menschen mit Brüchen in der Biografie. Eine Scheidung ‒ alleinerziehende Frauen sind schon während des Berufslebens stark von Armut betroffen ‒, aber auch eine Krankheit, ein Todesfall oder eine längere Arbeitslosigkeit können zu einem solchen Bruch führen, der Auswirkungen auf die Altersvorsorge hat.
 
In der aktuellen Krise steigt die Zahl der Betroffen. Mit was für einer Zunahme rechnen Sie?
Bei Kurzarbeit werden die Sozialversicherungsbeiträge nach wie vor geleistet. Selbstständige könnten in Schwierigkeiten geraten, wenn sie nur noch geringe oder keine Einzahlungen in die zweite oder dritte Säule tätigen können. Eine längere Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit und tieferen Löhnen hätte sicher auch Auswirkungen auf die Altersvorsorge. Das ist momentan jedoch äusserst schwierig abzuschätzen und hängt auch von der Dauer der Krise ab.
 
Was macht den Betroffenen am meisten zu schaffen?
Finanzielle Armut führt oft auch zu sozialer Verarmung. Die heutige Form von Armut ist oft unsichtbar: Isolation und Rückzug aus dem sozialen Leben. Die Menschen können Mangels Geld nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen: Nicht regelmässig Bekannte zum Kaffee treffen, keine kulturellen Veranstaltungen besuchen, keine Freunde einladen. Darunter leidet die psychische Gesundheit und letztlich oft auch die physische.
 
Wann sollte sich eine armutsgefährdete Person Hilfe holen?
Armutsgefährdete Personen sollten sich frühzeitig Hilfe holen. Bei zu langem Zuwarten verschlimmert sich in der Regel die persönliche Situation.
 
Welche Unterstützung bietet Pro Sencetute?
Die kantonalen und interkantonalen Beratungsstellen von Pro Senectute helfen gern und professionell. Im Rahmen einer Sozialberatung wird abgeklärt, welche Unterstützung die Betroffenen bereits haben und welche Möglichkeiten noch bestehen. Schliesslich kann Pro Senectute Menschen im Alter, die sich in einer finanziellen Notlage befinden, mit der Individuellen Finanzhilfe unterstützen. Dafür stellt ihr der Bund jährlich rund sechzehn Millionen Franken zur Verfügung.
 
Wer trotz einer AHV- oder IV- Rente nicht für seinen Lebensunterhalt aufkommen kann, erhält Ergänzungsleistungen. Ab 2021 gelten dafür neue Bestimmungen. Bringt die Reform genügend Verbesserungen?
Die Reform verbessert die Situation in erster Linie bei den Mieten. Bisher reichten, Stand 2016, die Beiträge für die Mieten bei rund 43’000 Haushalten nicht aus. Mit der Anpassung der so genannten Mietzinsmaxima wird die Situation hier klar verbessert. Man muss allerdings auch sagen, dass die Mieten noch stärker gestiegen sind. Das heisst, mit der Einführung per 2021 haben wir hier bereits wieder einen «Rückstand». Die Eintrittshürden wurden zwar erschwert, das Leistungsniveau bei den EL konnte jedoch gehalten werden. Es ist aber klar festzuhalten, dass das Leben mit EL ein bescheidenes Leben mit wenig Spielraum ist. Eine wichtige Verbesserung wurde in der Reform zurückgestellt, ist aber mit einer Motion dem Bundesrat überwiesen worden. Es geht darum, dass Betreuung zuhause ebenfalls über die EL finanziert wird. Betagte Menschen, die mit wenig zusätzlicher Unterstützung noch zuhause leben könnten, leben deshalb oft in Heimen. Mit dieser Massnahme, würde man ein wichtiges Bedürfnis abdecken und gleichzeitig wohl auch Kosten sparen.
 
Reformbedarf besteht ebenso bei der Altersvorsorge. So wie sie heute ausgestaltet ist, wird sie bald nicht mehr finanzierbar sein. Dennoch sind in den letzten Jahren mehrere Reformprojekte gescheitert. Ist man sich der Dringlichkeit zu wenig bewusst?
Ich denke, man ist sich der Dringlichkeit durchaus bewusst. Nach der gescheiterten Reform zur Altersvorsorge 2020 hat man nun relativ schnell neue Vorschläge sowohl für die 1. wie auch für die 2. Säule vorgelegt.
 
Was braucht es, damit sich die verschiedenen politischen Lager zusammenraufen?
Man kann eine gewisse Kompromisslosigkeit in den verschiedenen politischen Lagern feststellen. Es ist wichtig, dass man zurückfindet zum bewährten Schweizer Kompromiss, jeder gibt etwas und jeder bekommt etwas.
 
Welche Anpassungen halten Sie bei der AHV für angezeigt?
Die Flexibilisierung des Renteneintritts ist sicher eine wichtige Anpassung, die auf dem Tisch liegt. Es soll zudem vermehrt Anreize geben, über das ordentliche Rentenalter hinaus arbeiten zu wollen. Zentral ist aber die Frage, wie wir die AHV für die Generation der Babyboomer finanzieren.
 
Sie plädieren dafür, auch über ein höheres Rentenalter zu diskutieren. Warum?
Wir müssen uns dieser Diskussion stellen. Einerseits stellen wir fest, dass wir immer älter werden und gleichzeitig immer fitter sind. Andererseits müssen wir aber auch sehen, dass nicht jeder mit den gleichen Voraussetzungen älter wird. Die Situation ist für einen Maurer oder eine Polizistin eine andere als für eine Architektin oder einen Sachbearbeiter. Hier müssen flexible Lösungen gefunden werden.
 
Wie soll die zweite Säule, die berufliche Vorsorge, reformiert werden?
Zurzeit liegt ein Vorschlag der Sozialpartner auf dem Tisch. Die Diskussion ist in vollem Gange. Da wir immer länger leben, muss das angesparte Geld länger reichen. Dass der Umwandlungssatz gesenkt werden muss, ist weitgehend unbestritten. Die Angleichung bei den Altersgutschriften ist eine wichtige Massnahme, da das bisherige System mit vier Sätzen ältere Arbeitnehmende systematisch benachteiligt. Zu diskutieren wäre hier, ob man nicht bereits früher, also ab 20 in die 2. Säule einzahlen sollte. Die Senkung des Koordinationsabzuges ist ebenfalls angebracht, weil so für tiefe und mittlere Einkommen das vorsorgliche Sparen verbessert und insgesamt ein höherer Verdienst versichert wird. Meines Erachtens müssten aber auch die Vor- und Nachteile einer Abschaffung des Koordinationsabzuges ernsthaft diskutiert werden.
 
Das Parlament diskutiert über Überbrückungsleistungen für ausgesteuerte ältere Arbeitslose. Was halten Sie von dieser Idee?
Im Einzelfall kann eine solche Leistung die Situation für die Betroffenen sicherlich verbessern und sie von Sozialhilfe und somit auch vor Armut im Alter bewahren. Die Menschen suchen aber in erster Linie eine Arbeit und hier sollte der Schwerpunkt liegen. Im Ausland haben ähnliche Massnahmen nicht dazu geführt, dass die älteren Menschen in grosser Zahl wieder zurück in den Arbeitsprozess gefunden haben. Es kann sogar sein, dass so die Situation der älteren Arbeitnehmenden insgesamt verschlechtert wird. Es wird dann zum Beispiel früher nicht mehr in Weiterbildung investiert, oder im schlimmsten Fall eher ein älterer Arbeitnehmender entlassen. Nach Einführung der Rente wird man die Entwicklung sehr genau beobachten müssen.
 
Braucht es weitere politische Massnahmen, um der Altersarmut entgegen zu wirken?
Die Altersarmut wird in der Summe in Zukunft leider wohl eher zu- als abnehmen. Gründe dafür sind unter anderem die neuen Familienmodelle und Erwerbsbiografien mit Teilzeitarbeit, mehr Alleinerziehende und Patchwork-Familien. Aber auch die ungelöste Frage der Betreuung im Alter ist ein Grund für diese Entwicklung. Diese Frage beziehungsweise die Frage der Finanzierung der Betreuung im Alter muss gelöst werden. Wir werden nicht darum herumkommen, die Betreuung und die Pflege im Alter neu zu regeln und zu finanzieren. Verschiedene Vorschläge liegen auf dem Tisch. Ein prüfenswerter Ansatz könnte ein neues Finanzierungsmodell sein, das – ähnlich wie bei der Grundversicherung der Krankenkassen – die Basiskosten der Betreuung garantiert.
 
Sie sind seit drei Jahren Präsidentin der Pro Senectute. Welche Akzente haben Sie in dieser Zeit gesetzt?
Pro Senectute Schweiz und die kantonalen sowie interkantonalen Pro Senectute Organisationen haben miteinander die Strategie 2022 für die Gesamtorganisation entwickelt und die Massnahmen zu deren Umsetzung festgelegt. Wir wollen unsere Stärken gemeinsam weiter ausbauen und unsere Chancen nutzen. Ich habe viel Zeit und Herzblut in dieses für unsere Organisation zentrale Projekt investiert.
 
Gibt es ein Projekt, das Sie in nächster Zeit besonders intensiv verfolgen werden?
Eines der Projekte, die wir intensiv verfolgen, ist das betreute Wohnen, und zwar das betreute Wohnen zuhause, also nicht das stationär betreute Wohnen im Alter. Es geht dabei um die Frage, welche Unterstützungs- und Betreuungsangebote notwendig sind und welche Finanzierungsmöglichkeiten es braucht, damit ein verfrühter Heimeintritt verhindert werden kann.
 
Sie sind sechsfache Grossmutter. Sprechen Sie mit Ihren Enkelkindern ab und zu über Geld?
Ich mache das entsprechend ihrem Alter. Die Älteren haben bereits gelernt, dass sie sich gut überlegen müssen, wofür sie ihr Taschengeld ausgeben wollen, und dass es sich lohnt zu vergleichen, was wieviel kostet.
 
Was möchten Sie Ihren Enkeln auf den Lebensweg mitgeben?
Ich hoffe, dass sie ihren eigenen Weg finden und gehen können und dass sie den Mut haben, für ihre Überzeugungen und Wünsche zu kämpfen.