Schweizerische Ärztezeitung
April 2024

Ein Bauplan zum Anfassen

Wie Räume gestaltet werden, wirkt sich aus. Deshalb können Spital-Bauprojekte am Swiss Center for Design and Health simuliert und evaluiert werden. Ziel davon ist es, eine ansprechende Atmosphäre, eine sichere Nutzung und effiziente Arbeitsabläufe zu ermöglichen – und die Gesundheit zu fördern. Ein Einblick.

Schweizerische Ärztezeitung April 2024

Ist der Rollstuhl zu tief oder die Rezeption zu hoch? In der Simulation zeigen sich bauliche Herausforderungen.

Schweizerische Ärztezeitung April 2024

Weil Rettungskräfte auf kurze Wege angewiesen sind, werden häufig Notfall-Situationen getestet.

Ein älteres Paar betritt das Ambulatorium. Der Mann soll heute an der Schulter operiert werden. Er sitzt im Rollstuhl und wird von seiner Frau geschoben. Am Empfang stossen die beiden erstmals auf Schwierigkeiten. Die hohe Theke erschwert es dem Patienten, mit der medizinischen Praxisassistentin zu kommunizieren. Ohne Begleitung hätte er sichtlich Mühe, ihr seine Versicherungskarte zu reichen und die geforderten Daten anzugeben. Im Wartebereich versperrt der Mann im Rollstuhl daraufhin anderen den Weg. Beim Eintrittsgespräch, beim Umkleiden und in der Toilette fehlt es ihm an Platz. Seine Partnerin fühlt sich ebenfalls eingeengt und etwas verloren. Wo sie während der bevorstehenden Operation warten soll, ist nicht klar. Die beschriebene Szene spielt sich nicht zwischen Beton-, sondern zwischen Kartonwänden ab. Sie ist nicht real, sondern simuliert. Der Mann und die Frau sind kein Paar. Sie arbeiten zusammen und wirken an einem Workshop im Swiss Center for Design and Health (SCDH) in Nidau im Kanton Bern mit.

Zimmer werden 1:1 aufgebaut

Am SCDH werden unter anderem Pläne für Spitalbauten getestet. Auf der Extended-Reality-Simulationsfläche im Living Lab, auf einer Fläche von maximal 600 Quadratmetern, erhalten sie erstmals eine konkrete Form. Die Grundrisse werden 1:1 auf den weissen Bodenbelag projiziert. Wände, Türen und Fenster werden in der vorgesehenen Grösse aus Karton realisiert. Schliesslich werden die Räumlichkeiten mit medizinischen Geräten, Patientenliegen und weiterem Mobiliar bestückt. «Ob die Räume den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden, zeigt sich jeweils schnell. Beim Aufbau lassen sich bereits erste Schwachstellen erkennen», sagt Rahel Inauen, die im Forschungsteam des SCDH tätig ist. «Man sieht beispielsweise, ob ein Bett durch einen Durchgang passt.»

Heute sind Projektleitende der Hirslanden Bern AG und der Hirslanden Klinik Linde AG zu Gast, welche in der Unternehmensentwicklung arbeiten. In einem Workshop erleben sie unmittelbar, wie eine realitätsnahe Simulation ablaufen und wirken kann. Die eine Hälfte der Gruppe beobachtet das Geschehen und macht sich Notizen. Die andere Hälfte schlüpft in die Rollen des Personals. Die «Anästhesistin» bereitet den Patienten auf die Operation vor. Die «Chirurgin» führt den Eingriff durch und ein «Pfleger» betreut den Mann anschliessend im Aufwachraum. So erfahren die Teilnehmenden, wie Arbeits- und Behandlungsabläufe im geplanten Neubau funktionieren würden. Sie spüren körperlich, wie es ist, eine Person von einem Zimmer zum nächsten zu schieben. Sie nehmen wahr, dass es im doppelt belegten Anästhesieraum schwierig ist, ein vertrauliches Gespräch zu führen. Manchmal vermissen sie den Sichtkontakt zu den Kolleginnen oder dem Patienten. Und zum Ausguss und zur Händedesinfektion müssen sie lange Strecken zurücklegen.

Nutzende bringen ihre Sicht ein

«Wer in einem Spital arbeitet, weiss viel über Räume – auch ohne Architektur studiert zu haben», sagt Stefan Sulzer, Managing Director am SCDH. Von diesem Praxiswissen gelte es zu profitieren. An den Simulationen werden daher jeweils möglichst alle Nutzergruppen einbezogen. Dazu zählen die Ärzteschaft und das Pflegepersonal. Vertreten sind aber auch Mitarbeitende des Empfangs, der Hotellerie und des Facility Managements. Es gehe nicht darum, Architektinnen und Architekten zu kritisieren, betont Sulzer. Die Methode diene vielmehr der Unterstützung komplexer Bauvorhaben. Die unterschiedlichen Perspektiven frühzeitig zu berücksichtigen, zahle sich aus. So liessen sich teure Baufehler, ineffiziente Abläufe sowie Sicherheitsrisiken vermeiden. «Es ist viel billiger, mit Karton zu bauen als mit Beton.»
Die Besuchergruppe spielt im Living Lab abschliessend ein Notfallszenario durch. Der «Patient» erholt sich nach der Operation nicht wie gewünscht: Er übergibt sich und kollabiert. Die Ambulanz wird alarmiert und zwei «Sanitäterinnen» eilen herbei. Hastig schieben sie die Trage in den Aufwachraum, laden den Mann auf und bringen ihn zum Ausgang. «Rettungskräfte sind besonders auf kurze Wege angewiesen», sagt Rahel Inauen, welche die Simulation moderiert. Daher würden oft Notfall-Situationen getestet. Simuliert werden in der Regel auch logistische Prozesse. Zum Beispiel, wie medizinisches Material angeliefert und gelagert wird.

Die Workshop-Teilnehmenden verlassen den provisorischen Bau. Sie schlüpfen aus den Filzpantoffeln, die sie zum Schutz des speziellen Belags getragen haben, und versammeln sich um einen grossen Tisch. Im Debriefing berichten sie einander, was sie im Living Lab beobachtet haben. «Am Empfang ist man ziemlich exponiert», meint eine Besucherin. Andere Personen könnten vertrauliche Informationen hören, was man – gerade in einem Spital – vermeiden wolle. «Der Datenschutz ist bei vielen Bauvorhaben ein Thema», sagt Dr. phil. Minou Afzali, Leiterin Forschung am SCDH. In einer Simulation werde rasch deutlich, ob Räumlichkeiten die Privatsphäre der Nutzenden genügend schützten. Allein aufgrund von Plänen sei dies schwieriger zu beurteilen.
«Ich konnte den Patienten nicht direkt sehen», sagt jener Teilnehmer, der den Aufwachbereich von einem multifunktionalen Vorraum aus überwachen sollte. Dies erschwere nicht nur den Behandlungsverlauf und die Zusammenarbeit im Team, sagt Afzali. Fehlender Sichtkontakt könne auch gefährlich sein. «Studien belegen, dass Stürze häufiger vorkommen, wenn das Personal die Patientinnen und Patienten zu wenig im Blick hat.» Bauliche Anpassungen können die Sicherheit verbessern, wie aktuell in einem Musterzimmer im Living Lab zu sehen ist. Wird die Nasszelle an einer Ecke abgeschrägt, kann man vom Gang her einen grösseren Bereich überblicken.

Dem Wissenstransfer verpflichtet

«Wir machen nicht Design, sondern wir unterstützen den Designprozess, indem wir Entwürfe testen und wissenschaftliche e Erkenntnisse einbringen», sagt die Forschungsleiterin Minou Afzali. Das Kompetenzzentrum arbeitet dafür mit Hochschulen, Stiftungen und Wirtschaftspartnern zusammen. Es begleitet alle durchgeführten Projekte wissenschaftlich und veröffentlicht die Resultate. Es hat beispielsweise untersucht, wie gut eine neue Signaletik in einem geriatrischen Zentrum funktioniert. Die Studie ergab, dass es der Orientierung dient, wenn sich verschiedene Situationsbereiche farblich unterscheiden «Einfache Änderungen haben oft eine grosse Wirkung», sagt Rahel Inauen.

Die Tests im Living Lab regen zuweilen neue Entwicklungen an. Einfache Prototypen aus Holz, Metall, Stoff oder Papier stellen SCDH-Mitarbeitende selbst her. «Wir sind gut ausgerüstet und können Ideen schnell umsetzen», sagt Roger Zimmermann, Verantwortlicher für die Metallwerkstatt. Damit spare man Zeit, wenn man Projektteams begleite. Das Zentrum verfolge aber nicht das Ziel, selbst marktfähige Produkte zu entwickeln. In den Musterzimmern werden Innovationen von Startups eingesetzt und Wandfarben, Beläge sowie Textilien verschiedener Lieferanten getestet. In einem Doppelzimmer sind zurzeit Vorhänge in verschiedenen Farben aufgehängt. Der textile Raumteiler ist nicht auf ganzer Höhe blickdicht gestaltet. Im oberen Bereich lässt er viel Licht durch, was eine angenehme Atmosphäre schafft.

Umgebung beeinflusst Heilung

«Räume beeinflussen den Genesungsprozess», sagt Christine Nickl-Weller, Architektin in München und emeritierte Professorin der Technischen Universität in Berlin. Sie ist Expertin für «Healing Architecture», ein Gebiet, mit dem sie sich seit 20 Jahren beschäftigt. Nickl-Weller erwähnt eine Studie von Roger Ulrich aus dem Jahr 1984, die erstmals messbare Effekte einer Umgebung dokumentierte: Patientinnen und Patienten erholten sich nach einer Gallenblasenoperation besser, wenn sie von ihrem Zimmer aus in die Natur statt an eine Backsteinmauer blickten. Sie benötigten weniger starke Schmerzmittel, hatten seltener Komplikationen und konnten das Spital früher verlassen. Christine Nickl-Weller sagt daher: «Man sollte sich sehr gründlich mit dem Patientenzimmer befassen.» Der meist enge Raum müsse viele Vorgaben und Funktionen erfüllen. Eine virtuelle Simulation könne einen ersten Eindruck vermitteln. In einem Musterzimmer sei jedoch eine vertiefte Auseinandersetzung möglich. «Man nimmt die Beschaffenheit eines Materials, das Licht und die Farbgebung intensiver wahr.» In einem Spital gelte es, Lebenswelten zu gestalten, sagt die Architektin Jene der Patientinnen und Patienten, des Personals sowie der Besuchenden. Sie erlebten den Bau in unterschiedlichen Situationen und aus unterschiedlichen Perspektiven. «Nutzende einzubeziehen, ist daher wichtig.»

Distanzen besser einschätzen

Der Teufel liege bekanntlich im Detail, sagt eine Workshop-Besucherin in Nidau. Es ergebe daher Sinn, einzelne Handgriffe durchzuspielen. «Es ist etwas anderes, durch Räume zu gehen, als sie ausschliesslich auf Plänen zu sehen», sagt auch Nicole Burri, Leiterin Stab und Business Development Hirslanden Bern. Man könne Distanzen besser einschätzen und nehme Dinge wahr, die man sonst kaum bemerken würde. Laut den SCDH-Mitarbeitenden werden beispielsweise häufig Ablageflächen vermisst. Sei es für medizinische Geräte oder persönliche Gegenstände der Patienten. Die Simulation habe wertvolle Impulse gegeben und Optimierungen angeregt, sagt Daniel Pauli, der an der Planung des im Workshop gezeigten Ambulatoriums beteiligt war. Der Zugang für die Ambulanz sei gradliniger gestaltet worden. Die einzelnen Plätze im Aufwachraum seien verbreitert worden, um die Pflege zu erleichtern. Bauvorhaben derart zu testen und eine Aussensicht einzuholen, sei in jedem Fall empfehlenswert, sagt der Spitalplaner und Architekt. «Man sollte es bei jedem Projekt machen.»

Stefan Sulzer spricht einen weiteren Vorteil an: «Nutzende einzubinden und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen, erhöht die Akzeptanz eines Vorhabens.» Der Managing Director erwähnt als negatives Beispiel eine Klinik, in der sich die Garderobe der Mitarbeitenden in einem dunklen Untergeschoss und hinter einer Recycling-Sammel-Station befinde. «Das ist ein Statement, welches die Leute zwei Mal am Tag wahrnehmen, wenn sie sich umziehen.» Das Wohlbefinden der Belegschaft im Auge zu behalten, sei entscheidend. Gerade in einer Zeit des Fachkräftemangels. Dies gelte ebenso für andere Branchen und Bereiche. Gesundheit spiele auch in einem Büro, in einem Schulhaus oder im Strassenverkehr eine Rolle. Sulzer hofft, dass das Living Lab künftig noch breiter belebt wird und sich diese Art der Bauplanung etabliert. Die Gestaltung von Räumlichkeiten zu testen, sollte seiner Meinung nach Standard werden. «Es ist ein Irrglaube, zu wissen, wie man es macht.»