Grosseltern
November 2019

Eine Beziehung dauert an, auch wenn die Liebe endet»

Wenn sich ihre Eltern trennen, bricht für Kinder erst einmal eine Welt zusammen. Jacqueline Zünd lässt in ihrem aktuellen Film «Where we belong» fünf Betroffene zu Wort kommen. Im Interview spricht die Zürcher Regisseurin auch über die Rolle der Grosseltern.

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ACQUELINE ZÜND legt mit «Where We Belong» ihren dritten langen Dokumentarfilm vor. Sie lässt darin fünf Kinder erzählen, wie es ist, wenn sich Eltern trennen. Sie kombiniert Interviews mit Alltagsszenen und fängt damit auch ein, was nicht ausgesprochen wird. Der Film hat an der diesjährigen Berlinale Weltpremiere gefeiert und ist ab dem 14. November in den Schweizer Kinos zu sehen. Er hat der Regisseurin eine Nomination für den Zürcher Filmpreis 2019 eingebracht. Jacqueline Zünd absolvierte die Ringier Journalistenschule und die London Film School. Sie ist 48-jährig, hat einen Sohn und lebt in Zürich.

Frau Zünd, hören wir Erwachsenen Trennungskindern zu wenig zu?
Jacqueline Zünd: Aus meiner Erfahrung wird das Thema von Eltern eher gemieden. Es ist immer noch schambelastet. Die klassische Familie gilt immer noch als ideal, obwohl sie – wie wir wissen – zuweilen Neurosen auslöst. Wenn es um Trennungen geht, kommen vor allem Fachleute zu Wort. Die Sicht der Kinder hat meist wenig Platz.

In Ihrem Film lassen Sie fünf betroffene Kinder erzählen. Was haben Sie von ihnen gelernt?
Am meisten berührt hat mich, wie stark es diese Kinder kümmert, wie es ihren Eltern geht. Sie möchten ihnen keine Sorgen machen und nehmen sich daher zurück. Mich hat überrascht, wie weise sie sind, wie klar sie die Situation erfassen und wie gut sie sich artikulieren können.

Die Kinder spüren genau, was um sie herum geschieht.
Ja, sie haben ein beeindruckendes Sensorium. Man sollte sich mehr trauen, Kindern von getrennten Eltern Fragen zu stellen. Ich war vermutlich die erste Person, die mit den Protagonisten so direkt gesprochen hat. Bei meinem Sohn habe ich das auch zu wenig getan.

Die Protagonisten versuchen, ihre Eltern zu schützen. Sie übernehmen viel Verantwortung. Vielleicht sogar mehr als ihnen guttut?
Das kann ich nicht beurteilen. Sie stellen sich jedenfalls hinten an. Kleinere Kinder tun dies wahrscheinlich stärker als Teenager. Diese können sich eher auflehnen und sagen auch einmal etwas gegen die Eltern. Zum Glück.

Eltern und Grosseltern kommen in Ihrem Film nur indirekt vor. Thomas etwa geht häufig an das Grab seines Grossvaters. Wie wichtig sind Grosseltern in den drei porträtierten Familien?
In einer Familie sind sie sehr wichtig. Da leisten die Grosseltern einen grossen Teil der Betreuungsarbeit. Sie leben in einem Reihenhaus direkt neben ihrer Tochter, welche 100 Prozent erwerbstätig ist. Dass sie sich so intensiv um ihre Enkel kümmern, hat auch mit ihrer italienischen Herkunft zu tun. Bei Thomas ist die Grossmutter ebenfalls zentral. Sie lebt auf dem Bauernhof ihres Sohns und führt den Haushalt. Die Grosseltern der dritten Familie sind weniger präsent, sie wohnen im Ausland.

Sie sind selbst geschieden. Wie haben die Grosseltern Ihres Sohns damals reagiert?
Zu meinen Eltern habe ich eine enge Beziehung. Sie haben den Entscheid verstanden und sich mit ihrer Meinung zurückgehalten. Sie haben sich darauf konzentriert, uns zu unterstützen. Mein Sohn war in dieser Zeit häufiger bei ihnen.

Die Beziehung zwischen Ihrem Sohn und Ihren Eltern hat also nicht gelitten.
Nein, sie ist sogar intensiver geworden. Die Beziehung zur Grossmutter väterlicherseits war von Anfang an weniger stark. Sie wurde durch die Scheidung aber nicht gemindert.

Hat die Arbeit am Film Ihre Sicht auf Ihre Trennung verändert?
Wir sind alle nicht so perfekt, wie wir es gerne wären. Es gab während des Drehs schon Momente, in denen ich dachte, «oh je, das habe ich auch gemacht». Es gehört wohl zum Elternsein, dass man akzeptieren muss, Fehler zu machen.

Man erfährt von den porträtierten Kindern viel Persönliches. Man kommt ihnen – auch durch die Art, wie Sie sie in Szene setzen – sehr nahe. Was haben Sie bewusst weggelassen?
Ich wollte sie stark zeigen. Momente, in denen Tränen geflossen sind, habe ich bewusst weggelassen. Ich wollte die Kinder nicht als Opfer darstellen. Sie sollen sich gross und schön fühlen – wie kleine Stars. Der Film soll nicht pädagogisch daherkommen, er soll gerade Kinder und Jugendliche ansprechen.

Wie haben die fünf Protagonisten reagiert?
Sie fanden den Film cool. Das war ein schöner Moment. Vier sind an die Weltpremiere nach Berlin gekommen. Sie waren zuerst etwas kritisch, dann jedoch zufrieden. Sie sind stolz.

Wie war es für sie, vor der Kamera zu erzählen?
Es war nicht immer einfach. Ich habe dann versucht, sie emotional aufzufangen. In einer Vorführung bin ich kürzlich gefragt worden, wie ich gemerkt hätte, dass die Dreharbeiten am Ende angelangt seien. Eine gute Frage. Die Kinder haben es mir gezeigt. Alle fünf haben irgendwann gesagt «ich mag nicht mehr darüber reden».

Aus Ihrer Erfahrung: Was hilft Kindern bei einer Trennung?
Ich habe belastete Fälle ausgewählt, da diese zum Erzählen spannender sind. Das ist mir aber ganz wichtig: Viele Trennungen laufen gut. Wenn Eltern den Dialog aufrechterhalten und ihre Probleme unter sich lösen, erleben Kinder eine Scheidung relativ schmerzfrei. Ich habe dazu einmal die schöne Beschreibung gelesen: «Vielleicht fühlt sich das nicht mehr nach der heilen Welt der frühen Kindheit an. Aber es ist eine Welt, in der die Gewissheit herrscht, dass Beziehungen halten, auch wenn Dinge zu Ende gehen.»

Bindungen gehen nicht verloren.
Nein. Eine Beziehung dauert an, auch wenn eine Liebe endet. Es kann für Kinder lehrreich sein, zu sehen, dass man sich auf eine gute Art trennen kann. Grosseltern können ihren Enkeln in dieser unsicheren Zeit Halt geben. Sie können für sie da sein, ihnen ein vertrautes Umfeld bieten.

Obwohl fast 40 Prozent aller Ehen geschieden werden, bestehen Scheidungsfamilien gegenüber offenbar immer noch Vorurteile. Woran liegt das?
Die Schweiz ist ziemlich konservativ. Sie hinkt in gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher. Das Frauenstimmrecht wurde vergleichsweise spät eingeführt. Ich glaube, in anderen Ländern gibt es weniger Vorurteile. An internationalen Festivals löst der Film ganz andere Reaktionen aus als hier. Gerade nordische Länder haben eine offenere Gesprächskultur. Wir pflegen immer noch ein sehr konservatives Familienbild.

Die Filmszene ist ziemlich männerlastig. Wie nehmen Sie das wahr?
Das ist sie, ja. Die Filmförderung muss unbedingt gleichberechtigter werden. Andere Länder wie Schweden haben eine Quotenregelung eingeführt. Das fände ich auch bei uns sinnvoll, zumindest als Übergangslösung. Man hört häufig das Argument, dass die Qualität entscheide. Das stimmt aber nicht. Es gibt so viele schlechte Filme von Männern. Gleichberechtigt wären wir erst, wenn Frauen ebenso das Recht hätten, schlechte Filme zu machen.

Wie setzt man sich als Frau durch?
Unsicherheit und Selbstzweifel können eine grosse Quelle für Kreativität sein. Wenn es aber um die Finanzierung eines Projekts geht, sollte man sie tunlichst verstecken. Das beherrschen Männer besser als Frauen.