Tages-Anzeiger
Oktober 2022

«Es braucht ein klares Signal an die Eltern»

Viele Kinder erleben physische und psychische Gewalt durch die Eltern. Die Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach
fordert deshalb schärfere Gesetze. Im Unterschied zum Parlament sieht der Bundesrat keinen Grund für gesetzliche Anpassungen.

BERN Jedes zweite Kind in der Schweiz erfährt zu Hause Gewalt. Es wird körperlich bestraft, beschimpft oder abgewertet. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Erhebung der Universität Freiburg. Oft werden Eltern aus Stress oder Überforderung gewalttätig. Die meisten haben dabei ein schlechtes Gewissen. «Gewalt in der Erziehung ist immer noch weitverbreitet», stellt der Kinderschutz Schweiz fest, der die Studie in Auftrag gegeben hat. Die Folgen können verheerend sein: Betroffene Kinder leiden unter körperlichen Schäden, sind kognitiv sowie emotional belastet und haben ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Suizidgedanken, eine Drogensucht oder Alkoholismus. «Jede Form des Übergriffs wirkt sich negativ aus», sagt der Soziologe Dirk Baier. Selbst leichte und einmalige Gewalt erschüttere das Vertrauen eines Kindes. In Deutschland ist Gewalt in der Erziehung seltener «Erziehung ist zwar Privatsache», sagt Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle des Kinderschutzes Schweiz. «Gewalt an Kindern ist es jedoch nicht.» Kinder müssten endlich besser geschützt werden, wie es die UNO-Kinderrechtskonvention vorschreibe. Sie hätten ein Recht darauf, gewaltfrei aufzuwachsen. Das müsse gesetzlich besser verankert werden. Bei schweren Fällen kommt das Strafgesetz zum Zug. Eltern können bestraft werden, wenn ihre Erziehungsmethoden zu sichtbaren Schäden führen. Leichte Körperstrafen und psychische Gewalt sind in der Schweiz dagegen nicht explizit verboten. «Auch Ohrfeigen demütigen ein Kind und sind schädlich für seine Entwicklung – ebenso psychische Grausamkeit», sagt Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach. Mit einer Motion macht sie sich daher für eine eindeutige Regelung im Zivilgesetzbuch (ZGB) stark. «Es braucht ein klares Signal», sagt die Mitte-Politikerin und erhofft sich eine abschreckende Wirkung. «Viele Eltern würden sich mehr überlegen, wie sie ihre Kinder erziehen.» Sie verweist auf Erfahrungen aus umliegenden Ländern und Skandinavien, wo das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert ist. Gesetze könnten eine präventive Wirkung haben, bestätigt Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dies zeige sich etwa in Deutschland, wo Eltern weniger Gewalt ausüben würden. «Es ist ein Merkmal einer modernen Gesellschaft, sich für das Wohl von Kindern und Jugendlichen einzusetzen.» Über 60 Staaten lehnen körperliche Strafen in der Erziehung ab. Sie haben sich der Initiative End Corporal Punishment angeschlossen. Die Schweiz ist nicht dabei. Vorgaben müssen eindeutig formuliert sein. Der Bundesrat sieht keinen Grund für gesetzliche Anpassungen. Eltern seien schon heute dazu verpflichtet, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen, hält er in einem kürzlich veröffentlichten Bericht fest. Wichtig sei es, die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren und in schwierigen Situationen Unterstützung anzubieten. Dennoch legt der Bundesrat auf Wunsch des Parlaments dar, wie das ZGB angepasst werden könnte. Er würde in Artikel 302 folgenden Satz einfügen: «Insbesondere haben sie (die Eltern) das Kind ohne Anwendung von körperlichen Bestrafungen und anderen Formen entwürdigender Gewalt zu erziehen.» Mit einem weiteren Abschnitt könnte die Prävention gestärkt werden: «Die Kantone sorgen dafür, dass sich die Eltern und das Kind gemeinsam oder einzeln bei Schwierigkeiten an Beratungsstellen wenden können.» Christine Bulliard-Marbach, die den Bericht verlangt hat, ist enttäuscht, dass die Regierung nicht entschiedener handeln will. Prävention sei notwendig, reiche allein aber nicht, sagt sie. «Eine gesetzliche Verankerung ist die Voraussetzung, damit die Regeln ein für alle Mal klar sind.» Auch Regula Bernhard Hug bedauert, dass der Bundesrat auf neue Bestimmungen verzichten will. «Viele Kinder in der Schweiz erleben nach wie vor Gewalt», sagt sie. Für die Bevölkerung sei die gesetzliche Lage offenbar nicht so klar. Der Interpretationsspielraum sei gross. Mit unmissverständlichen Bestimmungen gäbe es weniger Betroffene. «Die Gesellschaft orientiert sich an den Normen, die der Gesetzgeber vorgibt», sagt Flavia Wasserfallen, Präsidentin Mütter- und Väterberatung sowie SP-Nationalrätin. Es brauche Vorgaben, die eindeutig formuliert seien. «Auch das Miterleben von häuslicher Gewalt oder herabwürdigendes Verhalten schadet Kindern», so Wasserfallen. Dies im ZGB zu benennen, sei angezeigt. Der Ball liegt nun beim Ständerat Philipp Kutter, Co-Präsident von Alliance Enfance und Mitte-Nationalrat, ist überzeugt, dass dies dazu beitragen würde, dass die Gewalt an Kindern abnimmt. «Man würde endlich nicht mehr davon reden, dass eine Ohrfeige noch niemandem geschadet habe.» Dass Eltern ihre Kinder vermehrt gewaltfrei erziehen würden, legt die Studie der Universität Freiburg nahe. Zwölf Prozent der rund 1000 Befragten gaben an, ihr Verhalten den gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Der Nationalrat steht hinter dem Vorstoss. Der Ball liegt nun beim Ständerat: Seine Rechtskommission wird sich am 3. November dem Thema widmen. «Wir haben die Chance, einen längst fälligen Schritt zu machen», sagt Christine Bulliard-Marbach.

Schwerwiegende Folgen: Kinder, die Gewalt erleben, haben später ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Alkoholismus. Bild Getty Image

Schwerwiegende Folgen: Kinder, die Gewalt erleben, haben später ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Alkoholismus. Bild Getty Images