Vitamin G
November 2021

«Für meine Enkel ist es normal, dass zwei Frauen zusammen sein können»

Marianne Dahinden hat ihre Liebe zu Frauen viele Jahre für sich behalten. Umso mehr freut sie sich, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. «Ein Ja wäre ein klares Zeichen, dass wir dazugehören. Das wäre ein extrem schönes Gefühl», sagt die einstige Zürcher Friedensrichterin.

Grosseltern
Unermüdlich

Marianne Dahinden (71) engagiert sich seit den 80er-Jahren für die Anliegen lesbischer Frauen. Sie wirkte unter anderem am Aufbau des beruflichen Netzwerks WyberNet mit und brachte dieses als Geschäftsführerin und Präsidentin voran. Im Jahr 2000 war sie im Vorstand der Eurogames für den Bereich Kultur zuständig. Marianne Dahinden arbeitete als Primarlehrerin, Heilpädagogin, Wirtin und Mitarbeiterin in einem Bioladen. 1987 wurde sie in der Stadt Zürich als erste Frau zur Friedensrichterin gewählt. Sie übte dieses Amt 20 Jahre lang mit grosser Begeisterung aus. Heute lebt sie mit ihrer Partnerin in Biel. Sie hat eine Tochter und zwei 11-jährige Enkelkinder. Mit den Zwillingen verbringt sie zwei- bis dreimal jährlich Ferien. Sie freut sich jetzt schon auf die nächste Gelegenheit.

Marianne Dahinden hat ihre Liebe zu Frauen viele Jahre für sich behalten. Umso mehr freut sie sich, dass die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet werden soll. «Ein Ja wäre ein klares Zeichen, dass wir dazugehören. Das wäre ein extrem schönes Gefühl», sagt die einstige Zürcher Friedensrichterin.

Marianne Dahinden, der Bundesrat und das Parlament wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen. Was bedeutet Ihnen dieser Schritt?
Marianne Dahinden: Das ist ein historischer Moment für die LGBTIQ-Bewegung, nicht nur für mich. Seit ich jung war, hat sich sehr viel verändert. Die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe hat ständig zugenommen. Ein Ja zur Ehe für alle wäre ein starkes Zeichen. Gerade für junge Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden. Laut Studien kommt es in Ländern, in denen Lesben und Schwule heiraten können, zu deutlich weniger Suiziden bei homosexuellen Jugendlichen.

Wie stehen Sie zur Ehe? Sie waren in jungen Jahren mit einem Mann verheiratet. Hatten Sie später noch einmal das Bedürfnis zu heiraten?
Ja. Meine Partnerin und ich leben seit sechs Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft. Wenn es 2015 bereits möglich gewesen wäre, hätten wir geheiratet. Das ist klar. Ich finde es wichtig, dass homosexuelle Menschen heiraten können, wenn sie das möchten. Ich kenne einige, denen es zu schaffen macht, ihren Zivilstand auf Formularen mit «in eingetragener Partnerschaft» anzugeben. Sie müssen sich zwangsweise outen – sei es an einem Schalter oder dem Arbeitgeber gegenüber. Das ist diskriminierend. «Unschuldig geschieden» ist ja auch abgeschafft worden.

Mit der «Ehe für alle» sind weitere Grundrechte verbunden, die von der eingetragenen Partnerschaft nicht abgedeckt werden. Welche erachten Sie als besonders wichtig?
Für junge Paare macht es einen grossen Unterschied. Es geht darum, dass sie als Familie mit ihren Kindern besser abgesichert sind. Wenn man in unserem Alter heiratet, spielen eher emotionale Gründe eine Rolle. Meine Partnerin und ich haben vieles mit Verfügungen und einem Partnerschaftsvertrag geregelt. Einfacher wäre die Gleichstellung mit heterosexuellen Paaren.

Es hat viele Jahre gedauert, bis die Politik bereit war, die Ehe für alle einzuführen. Worauf führen Sie dies zurück?
Unsere Bevölkerung ist eher abwartend bis konservativ. In anderen Ländern haben die Regierungen die Ehe für alle verordnet. Bei uns muss das Volk dahinterstehen, was für die Akzeptanz ganz wichtig ist. Von daher verstehe ich, dass die Politik nicht schneller vorwärtsgemacht hat.

Wie nehmen Sie die Stimmung in der Bevölkerung wahr? Ist gleichgeschlechtliche Liebe heute gesellschaftlich akzeptiert?

Ich denke schon, ja. Gerade in den Städten sind fast keine Vorbehalte mehr zu spüren. Trotzdem geschehen leider Hate Crimes. Es gibt einzelne, die es auf Schwule oder Trans-Menschen abgesehen haben. Lesben sind davon weniger betroffen.

Warum? Sind sie weniger sichtbar?
Ja. Und sie werden nicht als Gefährdung wahrgenommen.

Wie stand es um die Akzeptanz homosexueller Menschen, als Sie jung waren?
Als ich in der zweiten Klasse am Gymnasium war, hat mir jemand gesagt, dass unsere Italienischlehrerin mit der Griechischlehrerin zusammen sei. Da habe ich zum ersten Mal gehört, dass es gleichgeschlechtliche Liebe gibt. Ich dachte jedoch nicht, dass das für mich irgendwann eine Rolle spielen würde. Bei uns zu Hause und in der Schule war Homosexualität nie ein Thema. Es gab damals keine Role Models. Heute hat Zürich eine lesbische Stadtpräsidentin. Es gibt Sportlerinnen, Schauspielerinnen, Politikerinnen, die sich outen. Je mehr es tun, desto normaler und akzeptierter wird unsere Lebensform.

Sie haben als junge Frau zuerst einen konventionellen Weg eingeschlagen.
Das ist so. Ich habe meinen Freund geheiratet, weil wir im Thurgau einen Gastbetrieb eröffnen wollten. Und ich habe eine Tochter geboren. Mein Leben hat sich dann allerdings anders entwickelt, als ich dachte. Ich hatte zwar schon früher für Lehrerinnen oder Pfadiführerinnen geschwärmt, diese Gefühle aber nie hinterfragt. Mit 29 Jahren habe ich mich das erste Mal in eine Frau verliebt. Ich bin dann mit meiner einjährigen Tochter nach Solothurn gezogen, wo ich mich in alternativen Kreisen bewegte. Da war es kein Thema, dass ich mit einer Frau zusammen war.

Und in Ihrer Familie?
In meiner Familie habe ich lange als alleinerziehende Mutter gegolten. An Festen bin ich ohne Begleitung erschienen. Erst, als meine damalige Partnerin sagte, dass sie das verletze, habe ich mit meiner Mutter gesprochen. Für sie war es selbstverständlich, dass wir ab sofort zu zweit dabei waren. Was mein Vater dachte, weiss ich nicht.

Welche Reaktionen haben Sie in Ihrem beruflichen Umfeld erlebt?
Ich habe lange in einem alternativen Umfeld gearbeitet. Ich habe in der Roten Fabrik in Zürich, in der meine Tochter den Kindergarten besuchte, wie die anderen Eltern gekocht, zusammen mit meiner Partnerin. Wir fuhren mit anderen Lesben und deren Kindern in die Ferien. Als ich für die Grünen als Friedensrichterin kandidierte, sagte ein Parteiverantwortlicher zu mir: «Gell, du schaust, dass nirgendwo steht, du seist eine Lesbe». Ich wurde überall als «alleinerziehend» oder «getrennt lebend mit Kind» beschrieben. Prompt hiess es eines Tages, ich sei eine Rabenmutter. Meine Tochter müsse im Treppenhaus warten, wenn bei mir Männer ein- und ausgingen.

Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich bin dem Gerücht nachgegangen und habe die Person, die es verbreitet hat, darauf angesprochen. Ich sagte ihr, dass ich Anzeige erstatten werde, sollte ich noch einmal etwas in der Art hören.

Sie haben 20 Jahre lang als Friedensrichterin gearbeitet. War Ihre Lebensform da ein Thema?
Nein. Ich fragte mich manchmal schon, was meine Kollegen wohl denken. Zu unseren Ausflügen haben sie jeweils ihre Frauen mitgebracht und ich kam alleine. Einmal lernte ich den schwulen Sohn eines Kollegen kennen. Am nächsten Treffen habe ich ihn freudig darauf angesprochen. Das schien ihm peinlich, obwohl uns niemand zuhörte. Er hatte offenbar Mühe damit, einen schwulen Sohn zu haben. Dabei war er an sich ein offener Mensch.

Haben Sie Ihre Beziehung versteckt? Oder einfach nicht gross erwähnt?

Ich habe nie einen Freund erfunden. Wenn mich jemand direkt gefragt hätte, hätte ich nicht gelogen. Aber ich habe es nicht von mir aus thematisiert. Ich bin damit aufgewachsen, dass Homosexualität etwas ist, das man besser für sich behält. Ich war die erste Frau in diesem Amt und war skeptisch, ob mich die überwiegend männliche Kundschaft respektieren würde. Das war zum Glück kein Problem. Mein Gefühl war allerdings schon: Wenn die wüssten, dass ich eine Lesbe bin, dann hätte ich bestimmt mehr Probleme.

Sie hatten das Gefühl, es würde Sie zusätzlich angreifbar machen.
Genau. Einige meinten, sie müssten mir als Frau meine Arbeit erklären. Dann musste ich mich durchsetzen. Anders als Kollegen wurde ich jedoch nie körperlich angegriffen. Es gab ein paar Handgreiflichkeiten unter den Klienten, die ich klären musste.

In welchen Situationen haben Sie bewusst wahrgenommen, dass die Gesellschaft offener geworden ist?
Als meine Tochter an der Kantonsschule war, hatte sie eine Kollegin, die das Gefühl hatte, sie sei vielleicht lesbisch. Sie hat mich daher um geeignete Einstiegsliteratur gefragt. Da dachte ich, da hat sich einiges getan. 2015 haben meine Partnerin und ich uns verpartnert. Wir machten ein grosses Fest, was meine Enkel im Kindergarten erzählt haben. Die Kindergärtnerin hat das Thema aufgenommen und offen besprochen. Das finde ich grossartig. Es ist natürlich traurig und beengend, wenn man an der Arbeit oder anderswo nicht von seinem Privatleben erzählen kann, einen so wichtigen Teil der Persönlichkeit ausblenden muss.

Inwiefern hat es die Generation Ihrer Enkel einfacher als Ihre?
Sie weiss viel mehr. Sie kann freier überlegen, wie sie ihr Leben gestalten will. Meine Enkel sind 11 Jahre alt. Als ich meine Tochter auf die Abstimmung angesprochen habe, meinte sie, das sei kein Thema. Für ihre Kinder sei es normal, dass zwei Frauen oder zwei Männer zusammen sein können. Kinder gehen vielleicht offener mit dem Thema um, gerade, wenn sie eine Person kennen, die homosexuell ist. Ob man jemanden kennt, ist sicher entscheidend. Daher finde ich das Angebot so wertvoll, dass Lesben und Schwule Schulklassen besuchen. Sportlerinnen tragen ebenfalls zur Sichtbarkeit bei. Wenn sich Ramona Bachmann, Lara Dickenmann und Ariella Käslin outen, kennen plötzlich viele Leute eine Lesbe.

Worauf mussten Sie – im Gegensatz zu heterosexuellen Menschen – in Ihrem Leben verzichten? Nicht auf viel. Es ist natürlich traurig und beengend, wenn man an der Arbeit oder anderswo nicht von seinem Privatleben erzählen kann, einen so wichtigen Teil der Persönlichkeit ausblenden muss. Sobald man «wir» sagt, wird gefragt, «wer denn?» Ich habe oft erlebt, dass blöde Witze über Schwule gemacht wurden. Ich habe jeweils reagiert, aber nicht gesagt, dass es mich betrifft. Einmal habe ich eine Mitarbeiterin darauf angesprochen, dass sie lesbisch ist. Sie lehnte diese Bezeichnung ab. Sie sagte, sie sei in einer Frauenbeziehung.

Sie hatte Mühe mit dem Wort «lesbisch»?
Ja. Dieses Wort gefällt vielen nicht. Es klingt nicht schön. Die Wahrnehmung von «schwul» hat sich geändert. Schwule haben einen Stolz entwickelt. Den lesbischen Stolz gibt es noch nicht – also nicht mit diesem Wort.

Welche Alternativen gibt es? Das ist eine schwierige Frage. Ich sage immer lesbisch, weil ich hoffe, dass das Wort irgendwann positiv konnotiert sein wird.

Zurück zur Abstimmung: Mit welchem Resultat rechnen Sie? Ich bin zuversichtlich, dass die Vorlage durchkommt. Eventuell knapper als 2005 das Partnerschaftsgesetz, das extra geschaffen wurde. Wir wollen nichts Spezielles, wir wollen das Gleiche. Würde das Stimmvolk die Ehe für alle befürworten, wäre das ein klares Zeichen, dass wir dazugehören – in der Gesellschaft angekommen sind. Das wäre ein extrem schönes Gefühl.

Sollte die Vorlage durchkommen: Wo sehen Sie danach weiteren Handlungsbedarf, wenn es um die Rechte der LGBTIQ geht? Ich würde mir wünschen, dass noch mehr dafür getan wird, dass gleichgeschlechtliche Liebe schon im Kindesalter wahrgenommen wird. An Bibliotheken und Schulen sollte es mehr Bücher geben, die homosexuelle Paare zeigen. Man darf über uns lesen und reden.