Vitamin G
November 2018

«Ich habe zwei Leben geführt»

Eva Geiser hat sich sieben Jahre lang um ihre Mutter gekümmert, die an Demenz erkrankt war. Immer mit dem Gefühl, nicht genug zu tun. Geholfen hat ihr der Austausch mit anderen betreuenden Angehörigen.

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Es begann mit Terminen, die sich ihre Mutter nicht mehr merken konnte. Einmal schreckte sie aus dem Mittagsschlaf auf, als Handwerker an der Türe klingelten. Ein anderes Mal war ihr ein Notizzettel ein Rätsel, auf dem sie eine Zeit festgehalten hatte. «Dabei hatte sie einmal ein gutes Gedächtnis, sie kannte alle Namen und Telefonnummern», erzählt Eva Geiser. Kurz nach ihrer Pensionierung stellte die Winterthurerin bei ihrer Mutter erste Anzeichen einer Demenz fest. Ihr älterer Bruder, der im Elternhaus sein Atelier gehabt hatte, war eben gestorben. Ihre Mutter trauerte und brauchte im Alltag zunehmend Hilfe. Nach einem Spitalaufenthalt begann Eva Geiser, die damals 88-Jährige zum Einkaufen zu fahren, sie täglich anzurufen und an die Medikamente gegen den Bluthochdruck zu erinnern. Hinzu kamen administrative Aufgaben. Die Tochter erledigte die Rechnungen, füllte die Steuererklärung aus. «Ich führte zwei Leben», sagt sie. «Mein eigenes und das meiner Mutter.» Dabei habe sie stets ein schlechtes Gewissen geplagt. «Ich habe mir vorgeworfen, ich könnte mehr tun.»

Anderen geht es ähnlich

Eva Geiser informierte sich in Zeitungen, im Internet und beim Hausarzt. Sie traf in einer Gruppe andere betreuende Angehörige und tauschte sich mit einer Nachbarin aus, die sich um ihren Vater kümmerte. «Da habe ich gesehen, dass ich mit meiner Situation nicht allein bin.» In der Betreuung ihrer an Demenz erkrankten Mutter war die ehemalige Apothekerin allerdings lange auf sich gestellt. Es waren keine Verwandten da, die sie ab und zu hätten ablösen können. Sie musste sich selbst organisieren. Für die tägliche Körperpflege engagierte sie die Spitex. Daneben konnte sie auf die Unterstützung einer Raumpflegerin und eines Gärtners zählen.

Der Zustand ihrer Mutter verschlechterte sich stetig. Das Gedächtnis liess die Demenzkranke zunehmend im Stich, sie schaffte es nicht mehr, den Alltag zu organisieren. Hatte sie einen guten Moment, realisierte sie, dass sie ohne die Hilfe der Tochter aufgeschmissen wäre. «Alleine hätte ich nicht hierher gefunden», sagte sie einmal nach einer Autofahrt. Und als sie eine Generalvollmacht unterschrieb, meinte sie, «nun bin ich dir ausgeliefert», und lachte.

Dauernd präsent zu sein, belastet

Eva Geiser nahm der einst umtriebigen und geselligen Frau immer mehr ab; sie traf viele Entscheide allein. Das Gefühl, 24 Stunden am Tag für jemanden verantwortlich zu sein, zehrte an ihren Kräften. Als sie schliesslich mit einer schweren Grippe im Bett lag, realisierte sie, dass es so nicht weitergehen konnte. «Ein Schlüsselerlebnis», sagt sie im Rückblick. Nach einem Jahr Wartezeit erhielt sie die Nachricht, dass im nahen Altersheim ein Zimmer frei werde. Kurz vor Weihnachten konnte ihre inzwischen 94-jährige Mutter einziehen.
Sie lebte sich gut ein. Ihre Möbel gaben ihr das Gefühl, in einem heimeligen «Stübli» zu sein, wie sie es aus dem Elternhaus kannte. Die Zimmerzahl konnte sie sich dank einer Eselsbrücke merken. Wenig anfangen konnte sie mit einer alten Freundin, die im gleichen Altersheim lebte und ebenfalls an Demenz litt. Deren Verhalten befremdete sie. Dafür er – zählte sie viel von ihrer abenteuerlichen Hochzeitsreise, die sie nach Südamerika geführt hatte. Vor allem die Pumaspuren, die sie eines Morgens neben ihrem Zelt entdeckt hatte, erwähnte sie gerne. Nach 15 Monaten im Heim starb sie infolge einer Lungenentzündung nur einen Tag vor ihrem 95. Geburtstag.
Ihre Mutter habe einen guten Lebensabend gehabt, sagt Eva Geiser beim Gespräch an ihrem Esstisch. Drei Jahre sind seit dem Tod vergangen. Nun hat die 74-Jährige wieder Kraft und Zeit für eigene Interessen. Für die Malerei etwa, die sie schon oft auf Reisen geführt hat. Die Betreuung habe sie zuweilen überfordert, sagt sie. Zentral sei unter anderem, nicht am guten Willen eines an Demenz erkrankten Menschen zu zweifeln. Zu vielem sei er schlicht nicht mehr fähig. Betroffenen Angehörigen rät sie, sich möglichst früh zu vernetzen und Entlastung zu organisieren. Und: Sie dürften keine Perfektion anstreben. «Irgendwann habe ich mir gesagt, ich mache, was ich kann. Sollte dies nicht reichen, ist es Schicksal.»