Tages-Anzeiger
Januar 2023

«Man soll uns endlich ernst nehmen»

Verdacht auf schwere Impffolgen Sie sind selten, können aber mittlerweile nicht mehr wegdiskutiert werden:
starke Nebenwirkungen nach der Covid-Impfung. Betroffene fordern angemessene finanzielle und medizinische Unterstützung.

Eveline Rutz
und Edgar Schuler

Gemäss Schätzungen leiden 0,01 bis 0,02 Prozent aller Geimpften weltweit unter dem sogenannten Post-Vac-Syndrom. Sie berichten von Schmerzen, die sich im ganzen Körper ausbreiten. Sie haben Kopf-, Gelenk- und Muskelbeschwerden. Aber auch Taubheitsgefühle, Hautausschläge und Herzbeschwerden werden beobachtet. Das sind alles Symptome, die dem besser bekannten und viel häufigeren Long-Covid-Syndrom entsprechen.
Gregory Fretz, Leiter der Long-Covid-Sprechstunde am Kantonsspital Graubünden in Chur, warnt aufgrund der unklaren Lage und der tiefen Zahl Betroffener: «Man darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass man sich besser nicht impfen lässt.»

Betroffene haben im Juli 2022 den Verein Post-Vakzin-Syndrom Schweiz gegründet. «Leider kommen täglich neue Mitglieder dazu», sagt dessen Präsident Mirko Schmidt. Auch er kann nicht sagen, wie viele Betroffene es in der Schweiz gibt. «Aber jeder einzelne Fall ist tragisch.» Der Verein fordert einen offenen Diskurs und transparente Aufklärung über schwerwiegende Nebenwirkungen der Covid-Impfung. Betroffene sollen medizinisch sowie finanziell unterstützt werden.

Wir haben drei Betroffene getroffen. Ihnen haben Gesundheitsfachleuten bestätigt, dass die Impfung höchstwahrscheinlich ihre Beschwerden ausgelöst hat.

Thi Mai Trang Jost
Permanent Schmerzen und oft verzweifelt: Thi Mai Trang Jost (45)

Sie vermisst es, an die frische Luft zu gehen und Freunde zu treffen. «Ich ging oft wandern, habe gern gemalt und gekocht», sagt Thi Mai Trang Jost. Heute sitzt die 45-Jährige im Rollstuhl und ist auf Unterstützung angewiesen. Eine Nachbarin und ihre Familie helfen ihr, den Alltag zu bewältigen.
«Es geht mir schlecht, ich habe permanent Schmerzen und bin oft verzweifelt», sagt sie. Die Beschwerden kommen in Schüben. «Meine Gelenke schwellen an und werden ganz dick.» Statt wie früher zu 100 Prozent ist sie noch zu 50 Prozent als Sachbearbeiterin bei einem Verband tätig – aus-schliesslich im Homeoffice.
Die Bernerin berichtet, dass ihre gesundheitlichen Probleme nach der ersten Covid-19-Impfung begonnen haben. Die Menstruation blieb aus, die Einstich-stelle schmerzte. Nach der zweiten Dosis hatte sie unter anderem Gliederschmerzen. Nach dem Booster konnte sie sich fast nicht mehr bewegen und musste notfallmässig ins Spital. Nachts fand sie keinen Schlaf mehr. Von den Ärzten fühlte sie sich nicht verstanden. «Sie haben mir Cortison verschrieben», erzählt sie. «Das tat mir nicht gut.»
Inzwischen hat sie einen Arzt gefunden, der ihr «gut zuhört». Dieser bestätigt ihre Aussagen, will jedoch nicht namentlich zitiert werden, da er keine neuen Patientinnen und Patienten auf-nehmen kann. Er sagt: «Es besteht eine Autoimmunerkrankung, deren Symptome sich nach der zweiten und vor allem nach der Booster-Impfung stark verschlimmerten, was den Zusammenhang meines Erachtens beweist.»
«Die Leute sollen wissen, dass solche Nebenwirkungen vorkommen», sagt Jost. Sie engagiert sich und erzählt ihre Geschichte, um auch anderen zu helfen.Viele Betroffene hätten nicht die Kraft und die finanziellen Möglichkeiten, sich zu wehren.Viele äussersten sich nicht – aus Angst vor negativen Reaktionen.
Jost kritisiert, dass zu wenig Geld in die Forschung und in die Entwicklung wirksamer Therapien investiert werde. «Was wir durchmachen, interessiert Zuwenig.» Von den Krankenkassen wünscht sie sich ein stärkeres Entgegenkommen: Sie sollen für alternative Behandlungen auf-kommen. Eine Blutwäsche kann sich Jost nicht selbst finanzieren. Sie hat dafür ein Crowdfunding lanciert. «Ich habe mich impfen lassen, um andere zu schützen», sagt sie. Sie habe dies aus Solidarität getan und sei nun ebenfalls auf Solidarität angewiesen.

Thi Mai Trang Jost
Vom Gesundheitsfachmann zum Patienten: Stefan Nydegger (49)

«Ich möchte mein altes Leben zurück», sagt Stefan Nydegger. Der Familienvater war beruflich stark engagiert. Mehr als 30 Jahre war er im Gesundheitswesen tätig. Er arbeitete unter anderem im Labor, in der Pflege und als Rettungssanitäter. Er übernahm Führungsfunktionen, bildete Mit-arbeitende aus und war zuletzt beim Verein für Qualitätsentwicklung angestellt. Einen Tag pro Woche betreute er die beiden Kinder. Daneben trieb er ambitioniert Sport und lief 21 Kilometer in 1 Stunde und 22 Minuten.
«Das ist vorbei», sagt er am Telefon. Seit er sich im Herbst 2021 gegen Covid-19 impfen liess, kämpft der 49-Jährige mit gesundheitlichen Problemen. Sein Körper reagierte zehn Tage nach der zweiten Impfung mit einem inneren Juckreiz, Fieberschüben, Bronchitis, Taubheitsgefühlen so-wie Kopf-, Gelenk- und Muskel-schmerzen. Später kamen Herzbeschwerden hinzu.
Nydegger konnte eine Zeit lang kaum sehen und erlitt einen Hörsturz mit bleibendem Tinnitus. «Meine Frau drängte mich immer wieder, in den Notfall zu gehen», erzählt er. Er selbst habe den Symptomen zu wenig Beachtung geschenkt. Schliesslich ging er zum Hausarzt und wurde krankgeschrieben.
Der Berner kämpfte sich an den Arbeitsplatz zurück, wo er nicht mehr das leisten konnte, was er gewohnt war. Am Abend und an Wochenenden lag er flach. Irgendwann ging es nicht mehr. «Die Beschwerden passen zu den bisher beobachteten Nebenwirkungen der mRNA-Injektion», sagt sein Arzt Andreas Missura. «Andere Krankheiten konnten durch unterschiedliche Spezialärzte weitestgehend ausgeschlossen werden.» Missura wirft den Behörden vor, nicht transparent über Risiken zu kommunizieren. Er wünscht sich eine Anlaufstelle für Menschen mit Verdacht auf Impfschäden.
Nydegger hat gerade fünf Wochen in einer Rehabilitationsklinik verbracht. Die Ruhe tat ihm gut. Am meisten geholfen hat ihm bislang aber eine Blutwäsche. Die sogenannte Inuspherese-Therapie musste er selbst bezahlen; gegen 15’000 Franken hat er aus dem eigenen Sack für seine Gesundheit ausgegeben. Die finanzielle Situation belastet den Familienvater zusätzlich. Ab Februar wird er keinen Lohn mehr erhalten. Seine Funktion hat längst eine Kollegin übernommen. Seine berufliche Zukunft ist unklar. «Post-Vac-Betroffene drohen durch unser Sozialsystem zu fallen», sagt er.
Von den Behörden wünscht er sich mehr Unterstützung. Immerhin hätten sie die Impfung empfohlen. «Ich komme mir vor wie ein Versuchskaninchen», sagt Nydegger. Der Sammelklage gegen Swissmedic hat er sich nicht angeschlossen. «Es geht mir nicht darum, Schuldige zu finden. Aber man soll uns endlich ernst nehmen.»