Grosseltern
Juni 2019

Schlafen tut gut

Während der Organismus sich erholt, arbeitet das Hirn intensiv, das Immunsystem wird gestärkt. Und doch wird schlafen oft negativ bewertet.

Vitamin G

Wir schlafen, um wach zu sein. Wir ruhen, um Sinneseindrücke zu verarbeiten, Gelerntes einzuordnen und neue Energie zu schöpfen. Mit dem Einschlafen gleiten wir zwar in einen unbewussten Zustand. Geist und Körper bleiben aber aktiv: Sie durchlaufen lebenswichtige Prozesse. «Im Schlaf bildet sich unser Gedächtnis», sagt der deutsche Neurowissenschaftler Jan Born. Dies ist seiner Ansicht nach die wichtigste Funktion der nächtlichen Ruhe. Was wir tagsüber wahrnehmen, wird kontinuierlich mit bestehenden Wissensnetzwerken in Beziehung gesetzt. Es wird abgeglichen und konsolidiert. «Nicht jeder Teilaspekt wird dauerhaft abgespeichert», so der Schlafforscher, der an der Universität Tübingen lehrt. Das Gehirn verfügt über eine begrenzte Speicherkapazität. Es schält daher die Quintessenz einer Wahrnehmung heraus und integriert nur diese. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass insbesondere der Tiefschlaf das Lernen unterstützt. Wer Vokabeln büffelt, erinnert sich besser daran, wenn er danach schläft statt wacht. Im Schlaf nimmt zudem das explizite Wissen zu. Frisch aufgenommene Informationen werden qualitativ umstrukturiert. Born spricht von einem aktiven Prozess: «Etwas, was vor dem Schlaf nicht erkannt worden ist, wird durch den Schlaf bewusst.» In einem Experiment entschlüsselten Probanden beispielsweise die versteckte Struktur von Zahlenreihen. Gedächtnisbildung braucht Zeit und Ruhe. Das erklärt, warum wir, wenn wir schlafen, für äussere Reize kaum empfänglich sind.

Licht prägt den Biorhythmus

Schlaf ist jedoch nicht nur für das Hirn und die mentale Verfassung von essenzieller Bedeutung. Er gibt dem ganzen Organismus Gelegenheit, sich zu erholen. Er stärkt das Immunsystem, schützt das Herz und fördert die Wundheilung. Unser Körper folgt dem Rhythmus von Helligkeit und Dunkelheit, von Tag und Nacht. Nimmt das natürliche Licht gegen den Abend ab, leitet das Gehirn den Ruhezyklus ein. Nun wird Melatonin, das eigentliche Schlafhormon, ausgeschüttet; verschiedene Körperfunktionen werden heruntergefahren. Wie fein tariert unsere innere Uhr ist, merken wir, wenn wir in andere Zeitzonen reisen oder Schichtarbeit leisten.

Individuell und kulturell geprägt

Das individuelle Schlafverhalten ist teilweise genetisch festgelegt. Bereits im Kleinkinderalter zeigt sich, ob jemand einer Lerche oder einer Eule entspricht, ob jemand kurz oder lang, tief oder oberflächlich schläft. Hinzu kommen kulturelle Prägungen. So ist es in Japan nicht verpönt, tagsüber einzunicken. Sei es in der Metro, auf einer Parkbank, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Das Nickerchen wird als Beweis dafür gewertet, dass jemand viel geleistet hat. In unseren Breitengraden wird Schlaf eher negativ bewertet. Einzelne Manager und Politiker kokettieren damit, bloss wenige Stunden zu benötigen. «Als Leistungsgesellschaft definieren wir uns über Produktivität», sagt Theo Wehner, emeritierter Professor für Arbeits­ und Organisationspsychologie der ETH Zürich. Da komme der Schlaf schlecht weg: Er werde als verschwendete Zeit wahrgenommen. Wehner spricht von einem fatalen Missverständnis. Der Mensch sei ein tag­ und nachtaktives Wesen. Er verbrauche in der Nacht nur etwa 50 Kilokalorien weniger als am Tag, was vor allem der Hirnaktivität geschuldet sei.

«Schlaf ist etwas für Weicheier» («sleep is for wimps»), pflegte die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher zu sagen. Eine Haltung, welche nicht nur der aktuelle amerikanische Präsident teilt. Marco Hafner, Ökonom bei RAND Europe in London, beschreibt die Schweizer Arbeitswelt als Workaholic­Kultur. «Dabei sind Länder, in denen stundenmässig weniger gearbeitet wird, nicht weniger produktiv.» Als Beispiel nennt er nordische Staaten wie Dänemark oder Schweden, wo stärker auf eine gesunde Work­Life­Balance geachtet wird und die übliche wöchentliche Arbeitszeit kürzer ist.

Schlafmangel hat fatale Folgen

Wissenschaftler sind sich einig, dass der Mensch ein gewisses Mass an nächtlicher Ruhe braucht, um leistungsfähig zu bleiben. Bei Erwachsenen gelten zwischen sechs und acht Stunden als normal und angemessen. Zu wenig oder schlechter Schlaf hat negative Auswirkungen auf die körperliche und auf die mentale Verfassung. «Das Immunsystem funktioniert schlechter, man wird schneller krank. Man neigt zu einer Gewichtszunahme, Diabetes oder hohem Blutdruck», sagt Schlafexpertin Sarah Rey. Daneben leiden die Aufmerksamkeit und die Reaktionsfähigkeit, was im Strassenverkehr oder beim Bedienen von Maschinen gefährlich werden kann. Die Lernfähigkeit ist eingeschränkt. Man ist leichter reizbar, fühlt sich eher traurig und zieht sich zurück. «Dies verstärkt schon vorhandene Schlafprobleme», so Rey. Laut aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik leiden rund 40 Prozent der Schweizerinnen an Ein­ oder Durchschlafstörungen. Bei den Männern sind es rund 28 Prozent. «Wir verhalten uns riskanter und sind fehleranfälliger», ergänzt Arbeitspsychologe Wehner. Die Empathie nehme ab. Damit gehe die Energie für soziale Kontrollprozesse verloren und es komme vermehrt zu unethischem Handeln.

Müde Mitarbeiter kosten

Je übermüdeter jemand sei, desto weniger sei er sich dessen bewusst, stellt Marco Hafner fest. Als er vor fünf Jahren Vater wurde, erlebte er selbst, wie sich kurze Nächte auswirken. Dies nahm er zum Anlass, die individuellen und volkswirtschaftlichen Folgen von Schlafmangel zu untersuchen. Seine Resultate lassen aufhorchen: Wer weniger als sechs Stunden pro Nacht schläft, verliert im Jahr 5 bis 10 Arbeitstage im Vergleich zu jemandem, der sieben bis neun Stunden schläft. Er wird eher krank, lässt sich leichter ablenken und hat generell Mühe, Informationen zu verarbeiten. Der Schweizer Volkswirtschaft entgehen jährlich 4,5 Millionen Arbeitstage; es entstehen ihr Kosten von 5 bis 8 Milliarden Franken. Wirtschaft und Politik seien sich dieser gravierenden Konsequenzen erst wenig bewusst, sagt Hafner. «Es braucht noch einige Anstrengungen, um Vorurteile gegenüber Normal­ und Langschläfern abzubauen.» Die Studienautoren empfehlen beispielsweise flexible Arbeitszeiten, welche es Nachtmenschen erlauben, morgens später am Arbeitsplatz zu erscheinen, dafür abends länger zu arbeiten. Firmen können zudem Schlaftrainings anbieten oder Ruheräume einrichten, um kurze Schlafpausen (power naps) zu ermöglichen. Sie können darüber hinaus Anreize schaffen, damit ihre Mitarbeitenden genügend schlafen oder die geschäftliche Kommunikation nach Feierabend einschränken. Wie erfolgreich solche Massnahmen sind, hängt gemäss Hafner von der jeweiligen Firmenkultur ab. «Wenn der CEO mit wenig Schlaf prahlt, nützen Ruheräume wenig.»

Sensibel thematisieren

Das Thema Schlaf müsse neben Ernährung und Bewegung als drittes Standbein ins betriebliche Gesundheitsmanagement integriert werden, sagt Theo Wehner. Dabei müsse man allerdings sensibel vorgehen, tangiere es doch ein intimes Verhalten. Die Gesellschaft müsse umdenken und Attitüden wie «Schlafen kann ich, wenn ich tot bin» ablegen. Wehner plädiert unter anderem dafür, die Zeitumstellung abzuschaffen und den Schulbeginn für Teenager zu verschieben. Diese seien, hormonell bedingt, keine Frühaufsteher. Überhaupt müsse man stärker auf den Schlaftyp achten. Nicht jeder habe sein Leistungshoch am Morgen, genauso wenig wie nicht jeder gerne mit den Hühnern zu Bett gehe. «Vielleicht müssen wir auch nur unser überhöhtes Steuerungs­ und Kontrollbedürfnis abgeben: Schlaf ist immer auch Kontrollverlust.» Neue Forschungsansätze gehen jedoch in die gegenteilige Richtung. Wissenschaftler arbeiten daran, den Schlaf zu optimieren, indem sie das Gehirn gezielt zu beeinflussen suchen. Hirnströme können von aussen beispielsweise elektrisch oder mit Magnetfeldern stimuliert werden. Je nachdem soll dadurch eine tiefere Entspannung, eine bessere Regeneration oder intensiveres Lernen erreicht werden. Im Handel werden erste Geräte für den Privatgebrauch angeboten. «Die Offenheit der Bevölkerung für solche Technologien ist erstaunlich hoch», sagt Nicole Wenderoth, Professorin für Neuronale Bewegungskontrolle an der ETH. Eine Zukunft sieht sie in solchen Lifestyleprodukten aber bisher nicht. Die messbaren Effekte seien klein. Als vielversprechend bezeichnet sie hingegen das Projekt «Sleep Loop» des Forschungsverbunds «Hochschulmedizin Zürich», mit dem sie sich aktuell beschäftigt. «Unsere Idee ist es, den Schlaf zielgerichtet zu modulieren», sagt sie. Akustische Stimulation soll die Schlafqualität verbessen und dereinst Medikamente ablösen.

«Unser Menschenbild verändert sich»

Miriam Meckel, Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, warnt davor, das Gehirn effizienter machen zu wollen. Man wisse noch viel zu wenig über das Or­gan, schraube jedoch sorglos daran herum. «Statt besser, schneller und effizienter zu denken, treiben wir uns vielleicht einfach in den Wahnsinn», schreibt sie in ihrem Buch «Mein Kopf gehört mir». Im Gehirn stecke der Kern unserer Persönlichkeit. Dieses zu manipulieren, heisse, die Persönlichkeit zu manipulieren. «Das Gesicht der Menschheit wird sich verändern, wenn wir beginnen, unser Gehirn als Zone stetiger Selbstverbesserung und als ökonomische Ressource zu begreifen. Wir werden einander fremd werden. Uns selbst auch.»