Tages-Anzeiger
August 2022

Schweiz soll Leid der Saisonniers anerkennen

Entschuldigung gefordert Sie hatten viel Arbeit, aber wenig Rechte: Gastarbeiter durften ihre Kinder nicht in die Schweiz mitbringen.
«Das war unmenschlich», sagen betroffene Familien und wollen nun Gerechtigkeit.

 Es sind Geschichten voller Traurigkeit. Von Müttern und Vätern, die in die Schweiz kamen, um hart zu arbeiten. Und von Kindern, die bei Verwandten zurückgelassen oder versteckt wurden. «Die damalige Politik war ein Attentat auf die Integrität unserer Familien», sagt Egidio Stigliano, Sohn
italienischer Gastarbeiter. Eltern und Kinder auseinanderzureissen, sei unmenschlich. «Was wir erlitten haben, lässt sich nicht wiedergutmachen – aber das Leid muss anerkannt werden.» Rund dreissig Betroffene und Unterstützende haben im Herbst 2021 den Verein Tesoro gegründet. Sie fordern, dass sich die Schweizer Behörden offiziell entschuldigen. Was Saisonniers erlebt haben, soll historisch untersucht und entschädigt werden.
An wen die Entschädigungen bezahlt und wie hoch sie ausfallen sollen, müsse man noch genau-er diskutieren, sagt die Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, die sich im Vorstand engagiert. Ihrer Meinung nach soll es nicht bei einem symbolischen Betrag bleiben: «Was nichts kostet, ist in diesem Land nichts wert.» Profiteure dieser Politik Arbeitsmigrantinnen und -migranten seien aus wirtschaftlichen Interessen ausgebeutet worden,kritisiert sie. Sie hätten strukturelle Gewalt erfahren. Grund-rechte, darunter jenes auf Ehe und Familie, seien systematisch missachtet worden. «Wir Kinder wurden von den unmenschlichen Gesetzen illegalisiert», sagt die Schriftstellerin aus Ex-Jugoslawien. Sie selbst habe vierzig Jahre gebraucht, bis sie realisiert habe, was ihr und vielen anderen an-getan worden sei. «Erst aus der Distanz ist mir klar geworden, dass ein Gesetz zwar legal, aber moralisch verwerflich sein kann.»Tesoro wirft der offiziellen Schweiz vor, zu verdrängen, wie sie mit Saisonniers umgegangen sei. Scham- und Schuldgefühle hinderten einige bis heute daran, ihre Geschichten zu erzählen. «Es fehlt eine angemessene Sprache, um über die erlittene Gewalt zu sprechen», schreibt der Verein. Das Leiden sei noch längst nicht in seiner ganzen Dimension erfasst. Man müsse sich zudem auch mit den Profiteuren dieser Politik befassen. Die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg ist wissenschaftlich erst wenig erforscht. «Es fehlt an Quellen», sagt Melinda Nadj Abonji, die Geschichte studiert hat. Die Fremdenpolizei beispielsweise habe ihre Arbeit je nach Kanton unterschiedlich dokumentiert. Viele ihrer Dossiers seien inzwischen sogar vernichtet worden. Das mache eine historische Aufarbeitung entsprechend aufwendig. Ignoranz, Scham, Mitleid. Insbesondere über die familiäre Situation von ausländischen Arbeitskräften wisse man wenig, sagt Kristina Schulz, Professorin an der Universität Neuenburg. Die Zuwanderer seien über die gesetzlichen Bestimmungen häufig nicht ausreichend informiert gewesen. Je nach Kanton seien diese mehr oder weniger streng ausgelegt worden. Politik und Behörden hätten es aus ökonomischen Gründen in Kauf genommen, dass es versteckte Kinder gebe. Sie hätten aus Ignoranz, mitunter auch aus Mitleid nicht genauer hingeschaut und Rückweisungen aus Scham nicht dokumentiert. «Eine profunde historische Studie über die Lebensumstände von Saisonnierkindern steht noch aus», sagt die Historikerin, die sich in einem aktuellen Forschungsprojekt mit der Arbeitsmigration ab 1945 befasst. Das föderale System erschwere es, sich einen Überblick zu verschaffen. «Der Aufenthaltsstatus und damit die sozialen Situationen der eingewanderten Familien waren sehr unterschiedlich.» Samira Marti, SP-Nationalrätin (BL), findet es wichtig, «dass Betroffene an die Öffentlichkeit gelangen». Es sei an der Zeit, die damalige Migrationspolitik und deren Folgen historisch aufzuarbeiten. Die Bevölkerung in der Schweiz müsse für das entstandene Leid sensibilisiert werden. «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder Rückschritte in die Vergangenheit machen», warnt die Politikerin. Auch heute stünden armutsbetroffene Migrantinnen und Migranten unter Druck. Dass die Politik aus der Geschichte lernt, ist den Tesoro-Mitgliedern ein zentrales Anliegen. «Wir müssen von unseren Erlebnissen berichten, damit man sie nicht vergisst», sagt Vizepräsident Stigliano. Was Gastarbeiterfamilien erlebt hätten, dürfe sich nicht wiederholen.

Über die Feiertage nach Hause: Im Dezember 1976 nehmen jugoslawische Gastarbeiter einen Extrazug von Zürich nach Belgrad. Foto: Keystone

Über die Feiertage nach Hause: Im Dezember 1976 nehmen jugoslawische Gastarbeiter einen Extrazug von Zürich nach Belgrad. Foto: Keystone

Das galt für Gastarbeiter

Das Saisonnierstatut trat 1934 in Kraft, als sich viele Schweizerinnen und Schweizer vor Überfremdung fürchteten. Die Wirtschaft
sollte zwar von ausländischen Arbeitskräften profitieren. Diese sollten sich aber nicht integrieren. Richtig zum Tragen kam die
Regelung in den Boomjahren ab 1945, als vor allem die Baubranche verzweifelt nach Mitarbeitenden suchte. Saisonniers durften maximal elfeinhalb Monate lang in der Schweiz bleiben. Ab 1963 waren
es noch neun Monate. In dieser Zeit die Arbeitsstelle zu wechseln, war ihnen untersagt. Bei einer Kündigung mussten sie ausreisen.
Erst nach vier Saisons konnten die Zuwanderer eine ständige Niederlassung beantragen. Der Familiennachzug war verboten. Einige liessen ihre Kinder daher in der Heimat zurück oder brachten sie in grenznahen Heimen unter. Andere versteckten sie vor den Behörden. Die Schwarzenbach-Initiative wurde vom Stimmvolk mit 54 Prozent Nein-Stimmen allerdings abgelehnt. Das Saisonnierstatut ist 2002 abgeschafft worden. Seither gilt zwischen der Schweiz und der EU der freie Personenverkehr. (eru)