Grosseltern
Februar 2018
«Sie wussten, was Armut bedeutet»
Bundesrat Ignazio Cassis lebte mit seinen Grosseltern unter einem Dach. Er erinnert sich an sauren Wein, italienische Lieder und einen leckeren Blutkuchen.
IGNAZIO CASSIS
(56) ist seit Anfang November 2017 Bundesrat. Er hat die Nachfolge von Didier Burkhalter angetreten. Er leitet das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Davor amtete er als Fraktionschef der FDP im Parlament. Cassis ist verheiratet und lebt in Montagnola.
Mein Grossvater väterlicherseits war ein grosser, muskulöser Mann. Als Pächter eines Bauernbetriebs arbeitete er viel draussen auf dem Feld oder im Weinberg. Dabei sang er italienische Lieder, die mir bis heute im Kopf geblieben sind.
Seinen morgendlichen Kaffee trank er mit einem Gutsch Wein. Das war für ihn normal. Im Tessin hat man den Wein damals eigentlich immer gemischt, häufig mit Gazzosa. Das war die einzige Möglichkeit, nicht krank zu werden. Der «vino nostrano» war nämlich oft sehr sauer, für die Magenschleimhaut kaum erträglich. Wenn ich heute Touristen in den Grotti sehe, die unseren ausgezeichneten Merlot mit Gazzosa mischen, tut mir das im Herzen weh. Grossvaters Reserve ging jeweils schon Ende Frühling zur Neige. Betrunken war er allerdings nie. Seine Frau nannte er Padrona (Hausherrin). Das hat mich fasziniert, durfte sie doch nicht einmal abstimmen.
Wir lebten in Sessa im gleichen Haus. Dadurch hatten wir einen sehr engen Kontakt. Die Grosseltern mütterlicherseits sah ich dagegen nur während der Ferien. Sie lebten in Bergamo, in Norditalien.
DER BLUTKUCHEN SCHMECKTE
In Sessa hatten wir oft Besuch. Bei einer Tasse Tee wurden sonntags Geschichten erzählt, und niemand wusste, wie viel davon der Wahrheit entsprach. Meine Nonna führte im Dorf drei Jahrzehnte lang das Restaurant Unione. Wenn im November jeweils das Schwein geschlachtet wurde, kochte sie einen Blutkuchen. Das war ihre Spezialität, die mir sehr schmeckte. Meine drei Schwestern ekelten sich hingegen davor.
Meine Grosseltern lebten noch in einer total anderen Welt. Sie wussten, was Armut bedeutet. Als Primarschüler hätte ich mit ihnen gerne über historische Ereignisse wie die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre gesprochen. Sie konnten mir aber nichts darüber erzählen. Sie hatten damals genug Probleme damit gehabt, ausreichend Brot zum Essen und Holz zum Heizen zu bekommen. Meine Grossmutter kritisierte mich später einmal, als ich als Jugendlicher einige Schallplatten kaufte. «Du könntest krank werden und das Geld brauchen», sagte sie und lehrte mich Eigenverantwortung. Das ist mir geblieben wie auch das Bodenständige und das Pragmatische. Mein Grossvater starb, als ich acht Jahre alt war. Meine Grossmutter war viele Jahre verwitwet. Sie wohnte zu Hause, bis sie 90 Jahre alt war. Dann lebte sie noch zwei Jahre im Pflegeheim von Castelrotto, wo ich sie oft besuchte.