Grosseltern
#02 / 2023
« Wir kämpfen auch für unsere Kinder und Enkel »
Rosmarie Wydler-Wälti motiviert ihre acht Enkelkinder, sich für den Umweltschutz einzusetzen. Als Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen will sie die Schweiz zu einem stärkeren Engagement verpflichten.
Von EVELINE RUTZ (Text) und MIRJAM GRAF (Fotos)
Sie hat die Schweiz verklagt: Rosmarie Wydler-Wälti (73).
«Grossmami redet viel über den Klimaschutz», sagt Lil (10), und Yara (15) ergänzt:« Wir waren zusammen an einer Klimademo.»
Wenn Rosmarie Wydler-Wälti mit ihren Enkelinnen Yara und Lil Zeit verbringt, ist der Klimaschutz häufig ein Thema. «Sie redet viel darüber», sagt Lil (10). «Grossmami» achte darauf, keine Lebensmittel zu verschwenden, und habe kein Auto. «Wir waren zusammen an einer Klimademo», erzählt Yara (15) und erwähnt das Plakat, mit dem sie protestiert haben. Es zeigte die Weltkugel und war mit dem Slogan «Keep the earth cool» (Haltet die Welt kühl) beschriftet. Rosmarie Wydler-Wälti erinnert sich: «Ich sollte die Kinder hüten und habe sie kurzerhand an eine ‹Strike-for-future›-Kundgebung mitgenommen.» Die Schweiz mache zu wenig, um den Klimawandel zu bremsen, kritisiert die 73-Jährige. Unter den Folgen hätten ältere Frauen besonders zu leiden. Hitzewellen setzten ihnen zu. «Ich musste mich im Sommer auch schon hinsetzen, weil ich Atemnot hatte», so Wydler-Wälti.
Ziele des Bundes genügen den Frauen nicht
Die Baslerin ist Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen, die juristisch gegen die Schweiz vorgehen. Sie fordern, dass der Bund den Ausstoss an Treibhausgasen im Inland bis 2030 um mehr als 60 Prozent reduziert. Bislang sind 34 Prozent vorgesehen. Das Ziel, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen, genügt den Frauen nicht. Ihr Argument: «Wenn alle so handeln würden, wäre bis 2100 eine globale Erwärmung von bis zu 3 Grad Celsius zu erwarten.» Sie wolle nicht penetrant sein, sagt Rosmarie Wydler-Wälti. Sie möchte ihren Enkelkindern keine Angst machen und erfüllt ihnen ab und zu einen Kleiderwunsch. Dennoch will sie ihnen vermitteln, dass sich gerade Konsum und Mobilität auf die Natur auswirken – und nicht mehr viel Zeit bleibt. «Der eigene Lebenswandel ist mitentscheidend», betont die achtfache Grossmutter. Mit sich selbst ist sie mit zunehmendem Alter strenger geworden. Vor 13 Jahren ist sie das letzte Mal geflogen. Wenn sie verreist, nutzt sie die Bahn und Fähren. Im Alltag ist sie gerne mit dem Velo unterwegs. Ihr Haus in Basel ist längst mit einer Solaranlage ausgestattet. Seit Corona hat sich Rosmarie Wydler-Wälti fast nichts mehr gekauft. Sie gibt vor allem fürs Essen Geld aus. Bewusst zu konsumieren und beispielsweise auf neue Kleider zu verzichten, macht ihr nichts aus. «In meinem Alter haben die meisten von allem genug», sagt sie beim Treffen mit dem Grosseltern-Magazin.
«Die Babyboomer haben eine besondere Verantwortung»
Von ihren Eltern, einem Polizisten und einer Sekretärin, hat sie früh gelernt, sparsam zu leben. «Wir haben jedes Säckchen und Schnürchen aufbewahrt und wiederverwendet», erinnert sie sich. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dies nicht ungewöhnlich. Mit dem Wirtschaftswachstum und technischen Errungenschaften nahm der Konsum später allerdings massiv zu. «Davon hat meine Generation der Babyboomer profitiert», sagt Rosmarie Wydler-Wälti. Nun trage sie eine besondere Verantwortung. Wie die Co-Präsidentin betont, kämpfen die KlimaSeniorinnen nicht nur für sich selbst. Dass sie mit ihrer Gesundheit argumentieren, hat juristische Gründe. Nur wer selbst besonders betroffen ist, kann eine solche Klage einreichen. Den Frauen geht es jedoch noch um mehr. «Wir wollen etwas verändern – wir kämpfen auch für unsere Kinder und unsere Enkel:innen», sagt Rosmarie Wydler-Wälti. Sie sei mutiger geworden, fährt sie fort. Als Mädchen und junge Frau habe sie innerlich gelitten, wenn sie Ungerechtigkeiten wahrgenommen habe. «Inzwischen sage ich, was ich denke.»
Die gelernte Kindergärtnerin ging in den 70er-Jahren gegen das geplante Kernkraftwerk in Kaiseraugst auf die Strasse. Ihr Engagement intensivierte sich 1986, einem für sie «traumatischen Jahr». Im April explodierte in Tschernobyl ein Reaktor. Die Schweizer Behörden rieten, Kinder nicht mehr im Freien spielen zu lassen. Im November des gleichen Jahres wurde die junge Familie von einem Sirenenalarm aus dem Schlaf gerissen. Eine Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz (heute Novartis) war in Brand geraten. Die Baslerinnen und Basler wurden angewiesen, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Über 1200 Personen mussten später wegen Reizungen der Atemwege behandelt werden. Im Rhein verendeten die Fische, da Pestizide ins Wasser gelangt waren. Diese Ereignisse führten Rosmarie Wydler-Wälti zur Erkenntnis: «In der sicheren, heilen Schweiz kann es plötzlich gefährlich werden.»
Die vierfache Mutter begann, in verschiedenen Umwelt- und Frauenverbänden mitzuwirken. Sie warb im Quartier dafür, Alu-Deckeli zu sammeln sowie Jute- statt Plastiksäcke zu verwenden. Mit den Kindern lief sie an Friedensmärschen mit. Eine Zeit lang war sie Mitglied des Vereins «Integrale Politik Basel». Einer Partei trat sie aber nie bei. 2016 nahm sie an einem Treffen der GrossmütterRevolution teil, an dem ein Vertreter von Greenpeace referierte. Er berichtete den Frauen von der Möglichkeit, als direkt Betroffene den juristischen Weg zu beschreiten. Rosmarie Wydler-Wälti zeigte spontan Interesse. Zusammen mit Anne Mahrer, alt Nationalrätin der Grünen aus Genf, übernahm sie das Präsidium des Vereins der KlimaSeniorinnen. Im Vorstand engagieren sich zudem: Pia Hollenstein, Rita Schirmer-Braun, Oda U. Müller, Jutta Steiner, Elisabeth Stern, Norma Bargetzi-Horisberger und Stefanie Brander. Greenpeace unterstützt den Verein und garantiert für die Finanzierung der Klage.
Negative Reaktionen stacheln sie an
Das Medieninteresse ist in diesen Tagen hoch. Rosmarie Wydler-Wälti eilt von Termin zu Termin und gibt Interviews. Auch bei internationalen TV-Stationen ist die Klimaseniorin gefragt. Sie wiederholt, «dass Klimaschutz als Menschenrecht anerkannt werden muss». Und zeigt sich optimistisch, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg diese Ansicht teilt. Von Kritik lässt sie sich nicht beirren. Im Gegenteil: Negative Reaktionen stacheln sie an.
Dass die KlimaSeniorinnen schon mit Hexen verglichen wurden, wertet sie als Kompliment. «Hexen waren starke Frauen, die man fürchtete und umbrachte. Heute kann man sie nicht mehr umbringen.» Die KlimaSeniorinnen erhalten Einladungen aus ganz Europa, um von ihren Erfahrungen zu berichten. «Wir sehen uns als Pionierinnen», sagt die Co-Präsidentin. «Wir hoffen, dass wir für andere Frauen ein Vorbild sind.» Georg Klingler von Greenpeace, der als Sekretär des Vereins amtet, geht davon aus, dass der EGMR die Beschwerde gutheissen wird. Er verweist darauf, dass das Anliegen der KlimaSeniorinnen prioritär behandelt und von bedeutenden Drittparteien unterstützt wird. Darunter sind internationale Organisationen sowie namhafte Klimaexpert:innen und Rechtswissenschaftler:innen. Klingler spricht von einem «Präzedenzfall von grosser Tragweite». Weltweit seien über 2000 Fälle pendent. «Wir stehen an der Speerspitze dieser Klagewelle.» Ebenso optimistisch äussert sich Anwältin Cordelia Bähr. «Nur eine Handvoll aller Fälle schafft es, in Strassburg überhaupt angehört zu werden», betont sie. Das allein sei ein Erfolg. Die Westschweizer Co-Präsidentin Anne Mahrer teilt diese Einschätzung. Der Verein, dem mehr als 2000 Frauen angehören, habe bereits viel erreicht. «Nun sind wir auf der letzten Etappe eines langen Wegs», sagt sie. Rosmarie Wydler-Wälti hofft, dass die KlimaSeniorinnen Geschichte schreiben und «Verbesserungen für alle Generationen bewirken» werden. Davon würden auch Lil und Yara profitieren, die das Verfahren interessiert verfolgen. Ausruhen würde sich ihre Grossmutter allerdings nicht. «Wir werden wachsam bleiben und verfolgen, was die Schweiz macht», sagt sie.